Schülerin mit Schreibheft in Rumänien
Eine Erstklässlerin zeigt ihr Schreibheft in der Schule im siebenbürgischen Sacele. Nur drei Monate waren die Schulen in Rumänien in diesem Jahr geöffnet. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Bildung Rumänien: Wenn Schule unbezahlbar wird

19. Dezember 2020, 19:24 Uhr

Rumänien wollte in den vergangenen Jahren die Zahl der Schulabbrecher deutlich senken, denn sie ist eine der höchsten in der EU. Gelungen ist das Vorhaben nicht. Die Bukarester Regierung müsste dafür der Armut den Kampf ansagen: Rund eine Million Kinder im Land leben unter der Armutsgrenze. Aus Geldnot gehen sie oft nur wenige Jahre zur Schule. In der Corona-Krise sind sie vom Schulunterricht fast völlig abgehängt.

Loredana Otelas holt die Schulsachen für ihre vier Kinder aus der Schrankwand. Comicfiguren flimmern derweil über den Fernsehbildschirm, so richtig Ruhe gibt es bei den Otelas nicht. Im Wohnzimmer wird gekocht, gegessen, gespielt und nachts geschlafen. Zurzeit müssen die Kinder hier auch Schulaufgaben machen, denn ihre Schule ist wegen der Corona-Pandemie vorerst geschlossen.

Mutter mit ihren Kindern in Rumänien in ihrem Zimmer
Loredana Otelas mit drei ihrer Kinder: Filip (links), der die zweite Klasse besucht und den Töchtern, Daria und Vanesa (rechts), die in der dritten und fünften Klasse sind. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

70 Prozent im Viertel sind Analphabeten

Die Otelas leben im Roma-Viertel Garcini in der siebenbürgischen Kleinstadt Sacele. Rund 7.000 Menschen wohnen hier auf engstem Raum, es gibt kein Leitungswasser, keine Kanalisation, keinen Asphalt auf den Straßen. Fast 70 Prozent der Bewohner im Viertel sind Analphabeten. "Lesen und schreiben könnte ich noch", sagt Loredana Otelas, "viel mehr kann ich meinen Kindern aber nicht beibringen." Die 34-Jährige hat in der eigenen Kindheit die Schule nach der vierten Klasse abgebrochen – auf Drängen der Eltern. "Sie haben uns lieber betteln geschickt statt in den Unterricht, weil sie Geld brauchten, um die Familie durchzubringen", erzählt Otelas.

Ihre Kinder sollen dagegen einen Schulabschluss machen, auch wenn die Familie in Geldnöten steckt. Der Vater arbeitet als Schlosser, sie betreut die Kinder. Zusammen mit dem staatlichen Kindergeld haben die Otelas monatlich gut 540 Euro zur Verfügung und damit 18 Euro pro Tag für die sechsköpfige Familie. Mutter Loredana wünscht sich, dass ihre Kinder einmal mehr Geld zum Leben haben: "Doch ohne Schulabschluss findet man in Rumänien keinen Job mehr, selbst bei der Müllabfuhr nicht. Die Zeiten haben sich geändert, seit ich von der Schule gegangen bin."

Pferdewagen in Siebenbürgen in Rumänien
Blick ins Roma-Viertel von Sacele. Ein paar Bewohner haben gerade Holz aus dem Wald zum Heizen geholt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Warum die Schulabbrecher-Quote so hoch ist

Bei der Zahl der Schulabbrecher scheint dagegen die Zeit still zu stehen. Im vergangenen Jahr verzeichnete Rumänien mit 15,3 Prozent die dritthöchste Quote in der EU – nach Spanien und Malta. Jeder siebte Schüler in Rumänien verlässt vorzeitig die Schule. Besonders viele Schulabbrecher gibt es im ländlichen Raum und in Roma-Gemeinschaften, wo der Druck, von klein auf in der Familie mitzuarbeiten, am höchsten ist. 2015 verpflichtete sich die Bukarester Regierung in einem Fünf-Jahres-Bildungsplan, die Quote spürbar zu senken. Geschehen ist wenig, auch wenn die Entscheidungsträger die Hauptursachen kennen. Dazu zählen:

  • Armut - Mehr als ein Drittel aller Kinder lebt in Rumänien unter der Armutsgrenze. Das sind gut 1,3 Millionen Minderjährige.
  • Arbeitsmigration - Hunderttausende Kinder wachsen ohne Eltern auf, da die im westlichen EU-Ausland arbeiten. In instabilen Familienverhältnissen sehen Experten eine der Ursachen für einen frühzeitigen Schulabbruch.

Größte Schule Rumäniens

Wer in die Schule will, braucht zumindest Kleidung, Schulhefte und ein Pausenbrot von Zuhause. Gewöhnliche Dinge also, doch im Roma-Viertel Garcini in Sacele werden sie zur Existenzfrage, sagt Direktorin Iuliana Tomos. Sie leitet die Schule Nr. 5 im Viertel – mit 1.500 Schülern ist es die zahlenmäßig größte Allgemeinbildende Schule in ganz Rumänien. Alle Schüler kommen aus dem Armutsviertel. "Ihre Eltern jobben als Saisonkraft in der Landwirtschaft in Westeuropa oder sammeln Pilze und Heilkräuter in der Gegend, um sich über Wasser zu halten", erzählt Direktorin Tomos.

Wer im Viertel von Sozialhilfe leben muss, hat als Vier-Personen-Haushalt gerade mal 100 Euro im Monat zur Verfügung. Pro Kind gibt es vom Staat monatlich weitere 37,50 Euro Kindergeld dazu. Allein mit diesen Sozialzuschüssen eine zehnjährige Schulzeit zu finanzieren, ist nicht zu schaffen. Nach der vierten Klasse bricht daher fast ein Fünftel der Schüler in Tomos’ Schule den Bildungsweg ab. Doch die Direktorin will nichts unversucht lassen: "Einmal im Jahr erhalten Mütter eine Belobigung von uns, wenn sie ihre Kinder täglich zur Schule bringen." Jeder sechsten Mutter gelinge das inzwischen.

Schule Nr. 5 in Sacele in Siebenbürgen in Rumänien
Die Schule Nr. 5: Gut 1.500 Kinder werden hier unterrichtet. Weil nicht genügend Platz ist, geht ein Teil der Schüler vormittags zur Schule, der andere am Nachmittag. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Keine Ruhe beim Lernen, keine Zeit fürs Lernen

Motivierende Worte oder ideelle Belohnungen reichen allein nicht aus, um die Schulabbrecherquote spürbar zu senken, meint dagegen Liliana Bibac von "Salvati copiii" ("Save the Children") in Bukarest. Die Organisation bietet Kindern aus prekären Lebensverhältnissen eine Nachmittagsbetreuung an. Sie hilft ihnen, den Unterrichtsstoff zu verstehen. Die Hausaufgaben werden gemeinsam erledigt. Prävention gegen einen vorzeitigen Schulabbruch, nennt Bibac das Projekt: "Kinder in sozial schwachen Familien können nachmittags oft gar nicht lernen. Ihnen fehlt die Ruhe in den engen Wohnverhältnissen, sie müssen die Geschwister betreuen oder den Eltern helfen. Doch wer dauerhaft im Unterricht nicht mitkommt, gibt irgendwann auf". Die Organisation finanziert sich aus Spendenmitteln und kann damit nur punktuell in einigen Städten helfen. Bibac sagt: "Wir springen da ein, wo der Staat längst hätte handeln müssen."

Liliana Bibac von der Nichtregierungsorganisation „Salvati copiii“ in Bukarest
Liliana Bibac von der Nichtregierungsorganisation "Salvati copiii" in Bukarest Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Eltern finanzieren Bildungssystem mit

Bis heute fehlt ein staatlich finanzierter Schulhort, wo die Kinder den Lernstoff vertiefen könnten. Rumänien gibt, was sein Bildungssystem angeht, im EU-Vergleich die geringsten Geldsummen aus. 1.350 Euro sind in diesem Jahr pro Schüler an Bildungausgaben vorgesehen, in Deutschland war die Summe im Jahr 2017 fünfmal höher. Weil die staatlichen Mittel hinten und vorne nicht reichen, müssen Eltern das Bildungssystem mitfinanzieren, wenn sie wollen, dass ihre Kinder es zu etwas bringen. Sie spenden regelmäßig Geld, damit die Klassenzimmer renoviert, Schulolympiaden ausgetragen oder Schulmaterialien gekauft werden. Sie investieren aber auch massiv in Nachhilfe. Schätzungen von Bildungsexperten zufolge erhalten rund 40 Prozent aller rumänischen Kinder Privatstunden – oft vom Lehrer, der sie in der Schule unterrichtet. Für viele Lehrkräfte im Land ist der Nachhilfeunterricht seit Jahren ein willkommenes Zubrot zum Gehalt. Gefördert wird damit, wer aus einem finanzkräftigen Elternhaus kommt. "Der Rest der Kinder schlägt sich irgendwie durchs Schulleben oder bricht es ab", sagt Bildungsexpertin Liliana Bibac.

Kaum Schulunterricht in diesem Jahr

Die Corona-Pandemie verstärkt die soziale Ungleichheit zwischen den Schülern noch. Zwei Drittel des Schuljahres sind 2020 bereits durch flächendeckende Schulschließungen ausgefallen. Junglehrerin Diana Andreea Ciobanu hat im Roma-Viertel in Sacele 34 Erstklässler zu unterrichten. Eigentlich soll sie ihnen Lesen und Schreiben beibringen. Doch wie soll das gehen, wenn die Schule seit Monaten im Lockdown ist? Die 23-jährige Lehrerin ist mit vier Geschwistern aufgewachsen, sie weiß aus eigener Erfahrung, was Geldnot in der Kindheit heißt. Auch deshalb hat sie sich für die Roma-Schule in Sacele entschieden, um benachteiligten Kindern zu helfen. "Ich hatte das Glück, dass meine Eltern verstanden haben, wie wichtig es ist, dass ich auf die Schule gehe", sagt Ciobanu.

Kinder in der Schule Nr. In Sacele in Siebenbürgen in Rumänien
Junglehrerin Diana Andreea Ciobanu – im Oktober konnte sie ihre Schüler noch in der Schule unterrichten. Seit November sind die Schulen wieder landesweit dicht. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Schreiben lernen mit Tablets

Doch jetzt ist Ciobanu "am Verzweifeln, angesichts der Lehrbedingungen in der Corona-Pandemie". Erst im November reagierte das rumänische Bildungsministerium auf den monatelangen Unterrichtsausfall und verteilte landesweit rund 80.000 Tablets an sozial schwache Familien. Nichtregierungsorganisationen meinen dagegen, dass zehnmal mehr Geräte nötig seien, um auch wirklich alle Kinder an einen Online-Unterricht anzuschließen.

In Ciobanus Klasse ist jetzt ein Drittel der Schüler mit staatlichen Tablets ausgestattet, doch im Armutsviertel ist das Internet so schwach ausgebaut wie die staubigen Straßen. Lehrerin Ciobanu bemüht sich, dennoch täglich eine Stunde lang einen Online-Unterricht abzuhalten: "Die Kinder müssen mit dem Tablet umherlaufen, um den Standort mit dem stärksten Signal zu finden. Heute haben wir ein Drittel der Schulstunde gebraucht, bis alle 13 Schüler online waren", erzählt Ciobanu. Hinzu kommt: Erstklässler lernen das Schreiben nicht mithilfe eines Tablets. "Ich versuche wirklich zu unterrichten", sagt Ciobanu. Sie hält einen Augenblick inne, überlegt und sagt: "Aber eigentlich kann ich nur den Kontakt halten, damit sie die Schule nicht ganz vergessen."

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 19. Dezember 2020 | 07:24 Uhr

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