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QuarantäneCoronakoller: "Kunstfälscher" mischen Russland auf

10. Mai 2020, 05:00 Uhr

In Russland sorgen "Kunstfälscher" für Aufsehen. Sie machen selbst vor Michelangelo und van Gogh nicht halt! Die "Fälscher" rechtfertigen die Herstellung ihrer sensationellen Plagiate mit einem Corona-Koller.

von Denis Kliewer

Kunst oder Kitsch? Mit Wäschetrockner, Kinostuhl und Adiletten präsentiert Matthias Walter das Werk des Ikonenmalers Oleg Surkus "König David Psalmsinger II". Bildrechte: Facebook/Matthias Walter

In Russland herrscht seit Ende März ein strenges Quarantäneregime. Doch die Menschen lassen sich nicht unterkriegen und stellen unter den Bedingungen der Selbstisolation berühmte Kunstwerke nach. Diese posten sie dann in der Facebookgruppe Izoizolyacia. Was als Flashmob für Freunde begonnen hat, ist längst zu einer Massenbewegung geworden. "Izoizolyacia ist ein Flashmob gegen den Koller in unserer Coronavirus-Zeit," heißt es in der Info zu der öffentlichen Facebookgruppe. Der Name ist ein verstärkendes Kunstwort - zu deutsch etwa Isoisolation. Die Gruppenregeln geben Auskunft, welche Werke akzeptiert werden: Als Vorlage darf nur bildende Kunst dienen, Photoshop ist strengstens verboten und es werden nur Arbeiten akzeptiert, die auch wirklich unter Quarantänebedingungen entstanden sind.

Der erste Post von Katerina Brudnaya-Chelyadinova, mit dem der Kunst-Flashmob im russischen Facebook seinen Anfang genommen hat: Katerinas Mann Dmitry in der Rolle des Vincent van Gogh. Bildrechte: Facebook/Katerina Brudnaya-Chelyadinova

Flashmob gegen den Coronafrust

Ausgedacht hat sich das Ganze Katerina Brudnaya-Chelyadinova, Mitarbeiterin des russischen Internetportals Mail.ru. Im Gespräch mit der Veranstaltungs- und Kulturseite AfishaDaily erzählte sie, dass die Idee eher zufällig und aus der Not der Selbstisolation heraus geboren wurde. Ihr Arbeitgeber habe sie bereits am 17. März ins Homeoffice geschickt, die Stimmung in ihrem Umfeld sei niedergeschlagen und frustriert gewesen. Um Freunde und sich selbst etwas abzulenken, hat sie am 28. März die erste Bild-Nachstellung gepostet. Als Vorlage diente ein Selbstportrait Vincent van Goghs mit Hut. Als Model Katerinas Mann Dmitry. Die Idee stieß sofort auf große Resonanz und zwei Tage später entstand die Gruppe Isoisolation, die mittlerweile über 570.000 Mitglieder hat.

Michelangelos "Die Erschaffung Adams" - Freskendetail von der Decke der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Eine coronaspezifische Neuinterpretation von Olga Likhacheva. Bildrechte: Facebook/Olga Likhacheva
Die "Sixtinische Madonna" von Raffael aufgeführt von Elena Nikolaenko als "Familie in der Selbstisolation 2020". Das Original aus dem Jahr 1512 ist unter normalen Umständen in der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zu besichtigen. Bildrechte: Facebook/Elena Nikolaenko
"Der Schrei" des norwegischen Malers Edvard Munch. Pantoffel, Teppich: Manchmal kann es so einfach sein. Bildrechte: Facebook/Vladimir Pavlenko
Mit Wäschetrockner, Kinostuhl und Adiletten präsentiert Matthias Walter das Werk des Ikonenmalers Oleg Surkus "König David Psalmsinger II". Bildrechte: Facebook/Matthias Walter
Manch eine Nutzerin findet in der Kunstwelt ihre Doppelgängerin. Wie Irina Chernyak, die hier selbstironisch mit "Fisch meiner Träume" das Bild des zeitgenössischen amrikanischen Malers John Currin "The Moroccan" nachstellt. Das Original hängt im Centre Pompidou in Paris. Bildrechte: Facebook/Irina Chernyak
"Junges Mädchen, am Fenster stehend" des 21-jährigen Salvador Dalí kann hoffentlich bald wieder im Museo Reina Sofía in Madrid besichtigt werden. Das Sehnsuchtsmotiv überträgt Kira Viktorovna auf ihre "Nächtliche Fressattake", Isolation, 2020. Bildrechte: Facebook/Kira Viktorovna
Marc Chagall "Über der Stadt", 1918. Auf dem Bild hat Chagall seine Heimatstadt Witebsk im heutigen Belarus und in der rechten unteren Ecke sein Elternhaus verewigt. In der Nachbildung schwingt sich die Psychologin Ekaterina Govorkova zusammen mit dem Fotografen Dmitri Malashenko "über den Problemen auf, wie das Paar über der Stadt". Bildrechte: Facebook/Ekaterina Govorkova
"Frau des Regens" der zeitgenössischen ukrainischen Malerin Svetlana Telets und die Isolationsvariante von Anna Jurtsenko. Um das Original ranken sich im Internet dunkle Legenden. Es soll von der Künstlerin bereits drei Mal verkauft worden sein. Und wurde immer wieder zurückgegeben. Alle Käufer wollen im Bild eine dunkle Präsenz gespürt haben. Bildrechte: Facebook/Anna Jurtsenko
Der USamerikanische Maler und Illustrator Norman Rockwell mit dem "Mädchen mit blauem Auge" von 1953. Bei manchen Bildern wird man den Eindruck nicht los, dass das Foto zuerst da war. Roman Griffo versichert im Übrigen, dass er seine Tochter Nadja nicht geschlagen, sondern das blaue Auge geschminkt hat. Bildrechte: Facebook/Roman Griffo
"Der Tod des Marat" von Jacques-Louis David, 1793, zeigt die Ermordung des französischen Revolutionärs durch die Adlige Charlotte Corday. Maxim Loginov hat für seine Version auch den Titel des Bilds adaptiert: "Der Tod des Marat im Homeoffice". Bildrechte: Facebook/Maxim Loginov

Freiheit durch Kreativität

Die Idee entstand zeitgleich mit anderen, ähnlichen Projekten. Da gibt es etwa eine Gruppe auf VKontakte mit dem sprechenden Namen "Schieß ein Foto wie Rembrandt". Instagram hat seine #CovidClassics. Und das Getty Museum in Los Angeles hat Kunstliebhaber per Twitter aufgefordert, berühmte Werke zu Hause nachzustellen. In Zeiten der Pandemie scheint die Aufforderung, auf kreative und künstlerische Art mit der Krise umzugehen, bei den Menschen einen besonderen Nerv zu treffen. Die Moskauer Kunsttherapeutin Marina Zager verweist auf dem Businessportal finparty.ru im Zusammenhang mit dem Phänomen darauf, dass der Mensch, der aus dem Kontext seines gewohnten Alltags gerissen wurde, geradezu gezwungen sei, die gewohnte Logik abzustellen und seinen Blick ins eigene Innere zu wenden. "In einer Situation, in der alles verboten ist, erlaubt die künstlerische Kreativität alles zu tun, was man möchte. Diese Möglichkeit nimmt den permanenten Druck raus, unter dem wir gerade stehen," schreibt Zager.

Bildrechte: Facebook/Mino Pasqualone | Facebook/Mino Pasqualone

Für jeden etwas dabei

Die Bandbreite der Arbeiten auf Izoizolyacia reicht dabei von möglichst originalgetreuen Nachbildungen berühmter Werke, bei denen die Autoren teilweise ihre historischen Doppelgänger zu finden scheinen, über humorvolle Ironisierungen mit Bezügen zur Coronarealität bis hin zu komplexen Neuinterpretationen, die fundierte Kenntnisse der Kunstgeschichte voraussetzen. Der Kunsthistoriker und Kurator der Moskauer Tretjakow-Galerie Kirill Swetljakow hat für den Russischen Dienst der BBC einige ausgewählte Werke aus der Gruppe unter einem professionellen Blickwinkel analysiert. Dabei hebt er unter anderem eine Neuinszenierung des Bildes von François Boucher mit dem Titel "Amor und die drei Grazien" hervor. Boucher war ein Rokoko-Maler, lebte im Paris des 18. Jahrhunderts und war am Hof Ludwig XV. tätig. Er malte vor allem mythologische Figuren der griechischen und römischen Antike, mit Vorliebe in lasziv-erotischen Posen.

Für die Gruppe Izoizolyacia hat die Facebooknutzerin Kira Kuznetsova das Original von 1738 mit rohen Hühnerflügeln nachgestellt. "Ein wahres Kunstwerk," konstatiert Swetljakow. "Es ist sehr schwer Boucher mit Hilfe von Hühnern so nachzustellen, dass es auch gut aussieht. Aber gerade in diesem Fall spürt man den Rokoko-Stil. Dabei spielt sich alles in der Küche ab."

Auch mit rohen Hänchenflügeln lässt sich die Stimmung des Rokoko reproduzieren. Das beweist Kira Kuznetsova mit iher Neuinszenierung des Werks von François Boucher "Amor und die drei Grazien". Bildrechte: : Facebook/Kira Kuznetsova

Eine Erfolgsgeschichte

Der ursprüngliche Flashmob für Freunde hat indes längst die virtuellen Grenzen des russischen Internets überwunden. Neue Beiträge kommen etwa aus Italien, USA oder Mexiko. Und es scheint, als würde es so weitergehen. Zumindest so lange, bis die ersehnte Bewegungsfreiheit und der "übliche Trott" wieder zurückkehren und alle Isoisolierten mit Haut und Haaren verschlingen werden. Bis dahin aber gilt das Wort des russischen Malers des 20. Jahrhunderts Sergej Kalmykow: "Die Welt ist krank. Und es überrascht kein bisschen, dass nur die Künstler in der Lage sind, sie zu retten." 

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 09. April 2020 | 17:45 Uhr

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