Ausschnitte aus der HBO-Serie "Chernobyl".
Szene aus der Serie "Chernobyl": Sam Troughten und Paul Ritter spielen im Leitstand von Reaktorblock 4 den Schichtführer Alexander Akimow und den Versuchsleiter Anatoli Djatlow. Bildrechte: imago images / Cinema Publishers Collection

Russland, 19.06.2019 Hitzige Debatten um TV-Serie "Chernobyl"

19. Juni 2019, 15:00 Uhr

Eine US-Serie sorgt in Russland derzeit für heftige Diskussionen über die sowjetische Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl. "Chernobyl" trifft Millionen Russen ins Mark. Und das, obwohl der Super-GAU heute wie damals unter den Teppich gekehrt wird und Atomstrom im Land wieder als Technologie mit Zukunft gilt.

Der GAU - das Ende einer Lebenslüge

Niemand weiß so viel über die Katastrophe von Tschernobyl wie Professor Wladimir Legassow. Doch nun baumelt sein Körper leblos an einem Seil, das an der Decke seiner Plattenbauwohnung befestigt ist. Wenige Minuten zuvor hatte er sein Wissen auf Band gesprochen. Jenes Wissen um das Lügengestrüpp, die Geheimhaltung und die Vertuschung, die letzten Endes zur Katastrophe im sowjetischen Kernreaktor von Tschernobyl im April 1986 geführt haben. Und die ihm sein Leben nicht mehr lebenswert erscheinen ließen. Mit dieser Szene starten die Macher die amerikanischen HBO-Serie "Chernobyl" - eine Serie über die größte technische Katastrophe des 20. Jahrhunderts mit mindestens 4.000 Todesopfern und mehr als 100.000 Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten.

In Russland gehört die Katastrophe von Tschernobyl zu jenen Kapiteln der eigenen Geschichte, die man lieber vergessen würde wie einen Alptraum. Doch seit die fünfteilige HBO-Serie Anfang Mai ihre Premiere hatte, zieht sie Millionen Russen in den Bann. Und das, obwohl es sie nur im Internet zu sehen gibt. Auf der international beliebten Bewertungsseite IMDB hat "Chernobyl" mittlerweile die beste Wertung aller TV-Shows noch vor der Serie "Game of Thrones". Russlands Think-Tanks veröffentlichen Analysen über den Erfolg von "Chernobyl", während die Staatsmedien nach den kleinsten Fehlern suchen, um die Macher der Serie der Schlampigkeit zu überführen.

Detailgetreue US-Doku-Fiction

Unabhängige Beobachter dagegen sehen den Reiz der Serie in der genauen Darstellung der Lebenswirklichkeit und der politischen Umstände von damals. Gleichzeitig kommt die Serie ohne das Klischee des "bösen Russen" aus. Oleg Zinzow von der unabhängigen Zeitung "Wedomosti" sieht das Erfolgsgeheimnis darin, dass die amerikanischen Macher die Sowjetunion der 1980er ähnlich penibel nachzeichneten, wie sie es wohl mit ihrem eigenen Land gemacht hätten.

Das Ergebnis ist so überwältigend, als sei der Eiserne Vorhang ein zweites Mal gefallen.

Oleg Zinzow

Fast zweieinhalb Jahre hat Drehbuchautor Craig Mazin nach eigener Aussage recherchiert, wissenschaftliche Aufsätze und Regierungsdokumente studiert, Augenzeugenberichte und Bücher gelesen sowie Dokumentationen angesehen. Alle Hauptfiguren der Serie bis auf eine Wissenschaftlerin haben tatsächlich gelebt. Am Ende musste sogar der russische Kulturminister Wladimir Medinskij eingestehen: "Wir dachten, es sei alles viel schlimmer, aber die Serie ist meisterlich gemacht. Mit viel Liebe zu den einfachen Menschen." So sagte es der Minister der staatlichen Agentur Ria Nowosti.

Damals wie heute unter den Teppich gekehrt

Dabei zeigt die Serie Bilder, die die sowjetischen Machthaber damals in den 1980er-Jahren um jeden Preis verhindern wollten. Da sind zum Beispiel die Feuerwehrmänner, die ohne Strahlenschutz das Feuer im Reaktor löschen und sich gleich darauf übergeben müssen. Da sind Bergleute, die einen Tunnel fast mit bloßen Händen unter den explodierten Reaktor graben mussten, um die glühende nukleare Brühe von unten zu kühlen. Und da sind alte Kommunisten, denen es vor allem darum geht, das Ausmaß der Katastrophe, die das Potenzial hatte, Europa unbewohnbar zu machen, geheimzuhalten.

Auch im heutigen Russland ist Tschernobyl ein Thema, dass allenfalls an großen Gedenktagen eine Rolle spielt. So gedachte Wladimir Putin zuletzt 2016, zum 30. Jahrestag der Reaktorkatastrophe, der Liquidatoren. Viele von ihnen hätten ihr Leben riskiert, so der Kremlchef in einem Telegramm an die Hinterbliebenen, um das Leben anderer zu retten. Ansonsten wird die größte Katastrophe in der jüngsten russischen und sowjetischen Geschichte weitgehend ausgeblendet.

Exportschlager russische Atomkraft

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Stattdessen gilt Kernenergie in Russland seit langem wieder als Technologie mit Zukunft. Derzeit betreibt Russland zehn Atomkraftwerke mit insgesamt 35 Reaktoren. In den kommenden Jahren sollen noch weitere sechs entstehen. Gleichzeitig treibt der russische Nuklearkonzern "Rosatom" den Export von Atomkraftwerken voran. Derzeit baut der Staatskonzern Kraftwerke in acht Ländern, darunter in Ungarn, der Türkei und in China. Auch im EU-Land Finnland soll ab 2021 ein Kraftwerk mit russischer Technik entstehen. Und auch zu Wasser will Russland eine Flotte an nuklear betriebenen Eisbrechern und schwimmenden Kraftwerken aufbauen. Nach eigenen Angaben gehört "Rosatom" zu den zehn größten Steuerzahlern in Russland. Im vergangenen Jahr überwies der Konzern umgerechnet 2,5 Milliarden Euro an den Fiskus.

In der Konzernzentrale von "Rosatom" ist man sich sicher, dass die Probleme, die damals zur Tschernobyl-Katastrophe geführt haben, keine Rolle mehr spielen. Man habe seine Schlüsse daraus gezogen, eine Wiederholung sei ausgeschlossen. Das glauben offenbar auch große Teile der russischen Bevölkerung. 1990 sprachen sich nur 14 Prozent der Russen dafür aus, den Ausbau der Atomenergie weiterzuverfolgen. Zum 30. Jahrestag der Katastrophe 2016, das zeigt eine Umfrage des staatsnahen Umfrage-Instituts "WZIOM", sprachen sich 58 Prozent für Atomenergie aus. Fast zwei Drittel der befragten hielten Katastrophen wie die Reaktorexplosion im AKW Tschernobyl für sehr unwahrscheinlich.

Schwimmender mobiler Atomreaktor in Murmansk
Die "Akademik Lomonossow" ist der Prototyp für Russlands geplante schwimmende Kernkraftwerke in der Arktis. Bildrechte: imago images / ITAR-TASS

US-Serie trifft Nerv der Russen

Vor diesem Hintergrund wirkt es überraschend, dass ausgerechnet eine Tschernobyl-Serie nun Millionen Russen ins Mark getroffen hat. Einer der Gründe liegt wohl darin, dass die Katastrophe eine menschliche Dimension bekommt und dass jene einfachen Sowjetbürger, die an den Aufräumarbeiten beteiligt sind, durchaus das Zeug zum Helden haben. Das sieht auch Andrej Kolesnikow vom Moskauer Think-Tank Carnegie Center so:

In der Serie "Chernobyl" retten konkrete Menschen, die beim Namen genannt werden, die Welt vor einer Katastrophe, und zwar nicht dank, sondern trotz des Systems.

Andrej Kolesnikow

Dies laufe dem staatlich verbreiteten Geschichtsmythos entgegen, so Kolesnikow weiter. Die US-Serie zeige etwas, was russischen Filmemachern so schwer falle: Das Handeln konkreter Menschen vor dem Hintergrund des Versagens ihres eigenen Systems zu demonstrieren.

Russischer Sender greift Thema auf - unter umgekehrten Vorzeichen

An der Einstellung der Russen zur Atomenergie aber wird die Serie wohl wenig ändern. Auch kremlnahe Sender versuchen sich unterdessen am Thema. So dreht der staatsnahe TV-Sender NTW derzeit eine Serie zu den Tschernobyl-Ereignissen. In deren Mittelpunkt soll ein CIA-Agent stehen, der einen Sabotageakt auf das AKW verüben will. Ein KGB-Mann soll deshalb nach Tschernobyl reisen, um die Katastrophe zu verhindern.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Radio: SPUTNIK | 14.05.2019 | 18:04 Uhr

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