Pilger in der Hauptsynagoge am Grab von Rabbi Nachmann in Uman
Jüdische Pilger beten im ukrainischen Uman (2019). Dieses Jahr durften aufgrund der Corona-Pandemie nur wenige in die Stadt kommen. Bildrechte: imago images/imagebroker

Jüdisches Neujahrsfest Ukraine: Jüdische Pilger unerwünscht

19. September 2020, 05:00 Uhr

Jedes Jahr kommen Zehntausende ultraorthodoxe Juden zum jüdischen Neujahrfest Rosch Haschana in die Zentralukraine, um das glücksbringende Grab des Rabbi Nachman zu besuchen. Der jüdischstämmige Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, erklärte nun Rosch Haschana zum nationalen Feiertag. Ein historisches Ereignis, doch die Corona-Pandemie sorgt für reichlich Wirbel: Tausende chassidische Juden stecken an der belarussisch-ukrainischen Grenze fest.

Eigentlich löste dieser Erlass von Präsident Selenskyj im Sommer Begeisterung bei den lokalen jüdischen Gemeinden aus. Neben einigen weiteren religiösen Feiertagen erklärte Selenskyj drei jüdische Feste – Channuka, Pessach und Rosch Haschana – zu nationalen Feiertagen. Zwar muss ein entsprechender Gesetzentwurf mit allen noch nicht ausgearbeiteten Vorschriften durch das Parlament, dies gilt jedoch als Formsache. Die Neuregelung sieht vor, dass Mitglieder der jeweiligen Religionsgemeinde Anspruch auf arbeitsfreie Tage hätten.

30.000 jüdische Pilger in der Ukraine

Doch ausgerechnet Rosch Haschana, das jüdische Neujahr, in diesem Jahr zwischen dem 18. und dem 20. September gefeiert, sorgt aktuell für reichlich Wirbel. Das Fest hat ohnehin eine große Verbindung zur Ukraine. Denn im zentralukrainischen Uman befindet sich das Grab des berühmten Rabbi Nachman, des Urenkels des Gründers der chassidischen Bewegung, der eine eigene Richtung innerhalb des Judentums schuf. Jedes Jahr kommen Zehntausende ultraorthodoxe Juden nach Uman, denn wer das Neujahr in der Nähe des Grabes verbringt, dem ist angeblich ein glückliches Jahr garantiert. Im vergangenen Jahr kamen so mehr als 30.000 jüdische Pilger in die Zentralukraine.

Umans Bürgermeister übernachtet vor dem Präsidentenbüro

Aufgrund der Corona-Pandemie wollten allerdings sowohl die Ukraine als auch Israel diesmal das Kommen der Pilger verhindern. Die Außenministerien der beiden Länder warnten ausdrücklich vor einer Reise nach Uman, die israelische Seite klang dabei noch schärfer als die ukrainische. Keine Überraschung, denn Israel entschied sich inzwischen wegen der kritischen Corona-Lage für einen zweiten Lockdown, die Ukraine verzeichnet dagegen mit mehr als 3.000 Neuinfektionen pro Tag ihre bisherigen Rekordwerte. Bereits Anfang August kamen jedoch die ersten Chassiden in Uman an. Das empörte unter anderem den Bürgermeister der Stadt mit rund 80.000 Einwohnern, der im Anschluss sogar demonstrativ vor dem Büro Selenskyjs in Kiew übernachtete – ein für die ukrainische Politik typischer PR-Gag. Im Oktober sind schließlich Lokalwahlen und der Bürgermeister von Uman will wiedergewählt werden.

Oleksandr Tsebriy
Der Bürgermeister von Uman, Oleksandr Tsebriy, übernachtete vor dem Präsidialamt in Kiew, um gegen die Ankunft der chassidischen Pilger zu protestieren. Bildrechte: imago images/Ukrinform

Einreise für Ausländer für einen Monat gestoppt

Ende August probierte es Kiew anschließend mit der Brechstange und verhängte einen Einreisestopp für alle Ausländer für einen Monat. Offiziell fungierten steigende Corona-Zahlen als Grund. Inoffiziell betonten Mitarbeiter der Regierung Medien gegenüber, dass die Maßnahme vor allem die Pilgerfahrt verhindern soll und nicht ohne Absprache mit Israel verabschiedet wurde. Für die dortige Regierung ist dies ebenfalls eine heikle Angelegenheit. Rund 700.000 ultraorthodoxe Juden leben nämlich in Israel und sind eine bedeutende Wählergruppe.

Juden an der Grenze abgewiesen

Schon in den Tagen vor dem Einreisestopp hat die Ukraine an ihren Flughäfen Juden gezielt ohne Grund abgewiesen, was für diplomatische Verwerfungen sorgte. Israel musste vergeblich auf der Einreise der eigenen Bürger bestehen, obwohl die Regierung vorher öffentlich dagegen warb. Aber auch sonst gab es kritische jüdische Stimmen. "Für uns war das ein Schock", betont der Oberrabbiner der Ukraine Reuwen Asman. "Wir hatten uns kurz vor dem Einreisestopp mit Selenskyj getroffen, Schritte wie die Grenzschließung wurden nicht mal angedeutet." Asman hätte es für besser gehalten, einer begrenzten Anzahl von Juden aus Israel die Einreise zu erlauben, die vorher und nachher auf Corona getestet und vom Flughafen direkt nach Uman gebracht worden wären.

Tausende Chassiden an der belarussisch-ukrainischen Grenze

Etwa 3.000 Chassiden haben es trotz allem rechtzeitig nach Uman geschafft und werden Rosch Haschana vor Ort feiern. Überwacht werden sie dabei von sechs israelischen Polizisten, die auf Wunsch der ukrainischen Polizei ins Land kamen.

Doch einige Tausend weitere Pilger haben den Einreisestopp der Ukraine ignoriert und wollten das Land über das Corona-ignorante Belarus erreichen. Die meisten davon sind im Niemandsland zwischen den beiden Ländern gestrandet. Doch die Ukraine denkt nicht im Traum daran, sie hereinzulassen.

"Seit drei Wochen wusstet ihr von dieser Entscheidung. Ich verstehe, dass dies eure Tradition ist und wie wichtig es ist, in Uman zu sein. Aber in diesem Jahr ist es unmöglich, das kann ich noch Tausend Mal wiederholen", soll General Serhij Dejneko, der Chef des Grenzschutzes, zu den Chassiden an der Grenze gesagt haben.

Das Rote Kreuz hat im Niemandsland zwischen Belarus und der Ukraine Heizungs- und Medizinpunkte organisiert. Nahrungsmittel und Wasser werden von den jüdischen Gemeinden und der israelischen Botschaft geliefert. Inzwischen haben sich viele der gestrandeten Chassiden jedoch entschieden, das jüdische Neujahrsfest in Belarus zu verbringen und sind in Gruppen wieder ins Landesinnere abgereist.

Jüdische Pilger in Uman
Chassidische Juden feiern am Grab des Rabi Nachman (2018). Bildrechte: imago/Ukrinform

Pilger versetzen Uman in Ausnahmezustand

Doch nicht nur an der Grenze, sondern auch in Uman selbst läuft es nicht ganz rund. So haben einige Chassiden die Corona-Schutzzäune vor dem Grab des Rabbi Nachman zerstört. Einer der Täter wurde dafür mit einem dreijährigen Einreiseverbot für die Ukraine belegt, hat aber bis zum 25. September Zeit, das Land zu verlassen.

Die Pilgerströme versetzen die Stadt alljährich in einen Ausnahmezustand. "In der Regel läuft es sehr chaotisch ab", schildert ein Uman-Bewohner seine Erfahrungen mit den Pilgern gegenüber dem MDR. "Es kommen halt rund 30.000 Menschen jedes Jahr, das ist für unsere kleine Stadt sehr viel. Konflikte mit den Lokalbewohnern gibt es auch, nicht alle Bürger sind zudem positiv gegenüber Juden eingestellt. Generell ist Rosch Haschana aber für die Stadt eine der wenigen Möglichkeiten, großes Geld zu verdienen."

Frust wegen ausbleibender Einnahmen

Im vergangenen Jahr bekam die Stadt immerhin rund 225.000 Euro Steuereinnahmen von den Unternehmen, die Chassiden in den wenigen Tagen bedienten. Ein Drittel des Geldes musste jedoch nach Angaben der Stadtverwaltung in die Reinigung der Umgebung des Grabes gesteckt werden. Auf die Stadt scheinen einige Pilger keine Rücksicht zu nehmen. Dennoch: In diesem Jahr, wo die Pilgermassen weitgehend wegbleiben werden, ist der Frust wegen der fehlenden Einnahmen durchaus zu spüren. Im ganzen Land wurde die Beförderung der jüdischen Feste zu nationalen Feiertagen meist positiv wahrgenommen. Nur im Internet gab es gelegentlich empörte Reaktionen, mit dem Verweis darauf, dass angeblich zu viele bedeutende Politiker oder Unternehmer wie Präsident Selenskyj jüdische Wurzeln hätten. Das ist aber nichts Neues in der Ukraine.

Ein Mann mit einem Koffer
Die Pilgermassen beim jüdischen Neujahrsfest in Uman hinterlassen auch enorme Abfallmengen. Bildrechte: imago/Ukrinform

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 19. September 2020 | 06:00 Uhr

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