Ukraine | Russland Sieben Jahre Krim-Annexion: "Emotionen kochen immer noch hoch"
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Ende Februar 2014 besetzte das russische Militär wichtige Gebäude der südukrainischen Krim-Halbinsel. Unser Ostblogger Denis Trubetskoy stammt aus Sewastopol auf der Krim und schildert seine persönlichen Erfahrungen von damals.
Am 15. März 2014 wurde ich 21 – und es war der wohl seltsamste Geburtstag in meinem Leben. Mit Freunden saß ich in einem Café im Zentrum meiner Heimatstadt Sewastopol auf der Krim, die seit Ende Februar 2014 von russischen Truppen besetzt wurde. Tags darauf fand das völkerrechtswidrige Referendum statt, bei dem angeblich über 95 Prozent der Krim-Bewohner für den Anschluss an Russland abgestimmt hatten. Meine Freunde und ich wussten, dass sich unser Leben komplett ändern würde. Wir waren eine gemischte Runde: Einige freuten sich über die bevorstehende Annexion, andere nicht. Deshalb fühlte ich mich - als klarer Gegner der russischen Übernahme - nicht so allein wie sonst.
Sewastopol im Übernahme-Taumel
Sewastopol, 1783 von Russland neu gegründet und als Basis der russischen Schwarzmeerflotte aufgebaut, befand sich in diesen Tagen in einer Ekstase. Zwei mythologisierte Verteidigungen während des Krim-Kriegs (1853 - 1856) sowie im Zweiten Weltkrieg, haben die Hafenstadt mit mehr als 400.000 Einwohnern zum Teil der russischen Militärgeschichte gemacht. Wahrscheinlich hatte es deshalb in Sewastopol in den Jahren vor der russischen Annexion schon immer Menschen gegeben, die öffentlich ihren Wunsch äußerten, zu Russland und nicht zur Ukraine zu gehören. Mehr als 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion glaubte man in Sewastopol allerdings nicht mehr daran, dass Moskau sich auf der Krim einmischen würde. Doch als ich am 23. Februar, kurz nach der Flucht des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch infolge der Maidan-Revolution, plötzlich 20.000 Menschen mit russischen Flaggen auf dem zentralen Nachimow-Platz sah, wusste ich sofort: Hier bewegt sich etwas. Und tatsächlich: Nur wenige Tage später besetzten die "grünen Männchen" (maskierte russische Soldaten in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen, Anm.d.Red.) das Krim-Parlament. Spätestens am 1. März, nachdem der russische Föderationsrat Präsident Putin erlaubt hatte, die eigenen Streitkräfte in der Ukraine einzusetzen, wurde mir und anderen Sewastopolern klar: Kiew hat die Krim verloren.
Die Propagandaschlacht
Nach so vielen Jahren des Wartens sahen die Sewastopoler, dass es Russland ernst meint. Das beflügelte die Menschen. Die geballte Propaganda im russischen Fernsehen, das trotz der ukrainischen Zugehörigkeit der Halbinsel dominierte, trug entscheidend dazu bei. Fast zeitgleich mit dem Beginn der Maidan-Bewegung wurde die Revolution in Kiew von russischer Seite massiv als nationalistisch und faschistisch diskreditiert. Und so hatte man bereits im Januar so viel Angst vor den sogenannten "Zügen der Freundschaft", die ukrainische Nationalisten angeblich nach Sewastopol schicken wollten, dass man sich sogar in Selbstverteidigungsgruppen vereinte. Einige Bekannte machten mit, ein von mir nach wie vor sehr geschätzter Freund wurde sogar zur Schlüsselfigur im Bataillon "Sewastopol ohne Faschismus". Und ich? Ich konnte nur den Kopf schütteln – und hatte Angst.
Mir fiel es schwer, zu glauben, dass so viele Menschen auf die russische Propaganda reingefallen waren. Faschistischer Putsch in Kiew mit ethnischen Säuberungen in den Regionen danach, wer glaubt denn sowas? Natürlich hatten sich auch rechtsradikale Kräfte am Maidan beteiligt und eine große Rolle in der Auseinandersetzung mit der Polizei gespielt. Die Realität wurde aber von der russischen Propaganda nicht nur zugespitzt, sie war zu großen Teilen frei erfunden. Am Ende teilten sogar Dozenten meiner Universität und erfahrene Journalisten das von russischen Medien transportierte Bild. Mein Argument, dass es nicht in Ordnung sei, ein Teil eines souveränen Landes zu besetzen, ganz egal, was und wo die USA zuvor etwas falsch machten, wurde nicht geteilt. Und auch nicht mein Einwand, dass es egal sei, wie "russisch" die Krim geschichtlich und kulturelle doch immer war.
Familientrennung
Allein der Gedanke, dass sachliche und faktenorientierte Diskussionen mit durchaus klugen Menschen nicht mehr möglich waren, machte mir mehr Angst als die Militärpräsenz der Russen – und auch mehr als bitter, dass jegliche Fehlentscheidung der beiden Seiten zu einer echten militärischen Auseinandersetzung führen kann. Ich konnte es kaum fassen und wurde viel emotionaler, als ein Journalist eigentlich sein sollte. Nicht nur, weil ich erst 20 Jahre alt war, sondern weil mich das Ganze direkt betraf. Und weil ich das, was man nicht mehr verhindern konnte, einfach nicht akzeptieren wollte. Das will ich bis heute nicht. Denn ich berichte nun von Kiew aus über die Ukraine sowie über die Region für deutschsprachige Medien, während meine Eltern in Sewastopol bleiben. Wir sehen uns viel zu selten – und ich weiß, dass sich das vorerst nicht mehr ändern wird. Denn zwischen Kiew und der Krim gibt es nun eine real existierende Grenze, obwohl die Ukraine sie lediglich als "administrative Grenze" bezeichnet. Sie wird morgen nicht verschwinden und übermorgen auch nicht.
"Die Emotionen kochen immer noch hoch"
Sieben Jahre später haben sich die Ukraine und die Krim stark verändert. Seitdem die Ukrainer den Ex-Komiker Wolodymyr Selenskyj im April 2019 zum Präsidenten wählten, haben sich vorerst die Friedensbemühungen in der Ostukraine deutlich verstärkt. Das baldige Ende des Donbass-Krieges ist unwahrscheinlich. Doch ab Sommer 2020 hielt zunächst unerwartet eine erfolgreiche Waffenruhe, die unter Selenskyjs Vorgänger Poroschenko unvorstellbar gewesen wäre. In letzter Zeit spitzt sich die Lage an der Frontlinie wieder zu. Die Regierung hat ihre Friedensbestrebungen offenbar begraben und kehrt zu einer aggressiveren Rhetorik von vor 2019 zurück. Und die Krim? Abgesehen von den offiziellen Stellen wird sie oft in Kiew nicht mal am Rande mehr erwähnt. Diese Hoffnungslosigkeit schmerzt. Und je mehr man darüber nachdenkt, je emotionaler wird man plötzlich - genau wie vor sieben Jahren.
Auch ich fühle mich als völlig anderer Mensch. Zu viel habe ich in dieser Zeit in der Ukraine gesehen und erlebt, ich bin auch viel ruhiger geworden – und mein Job schreibt mir sowieso die Zurückhaltung vor, was grundsätzlich gut ist. Die Ukraine bleibt ein gespaltenes, zerrissenes Land. Dieser Riss ist trotz aller Kiewer Beschwörungen in den unterschiedlichen Landesteilen zu spüren – und vor allem kochen die Emotionen auch sieben Jahre nach der Krim-Annexion und dem Beginn des Donbass-Kriegs unverändert hoch. Das kritisiere ich oft in meinen Berichten, denn ich glaube, diese emotionale Polarisierung ist schädlich für die Zukunft der Ukraine. Doch jedes Mal erinnert mich die innere Stimme daran, wie emotional ich selbst vor sieben Jahren war und auch jetzt noch gelegentlich werde.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 23. November 2020 | 22:00 Uhr