Russland Mogelpackungen wegen Rubelschwäche
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Gleicher Preis aber weniger drin: Milch, Kaffee, Reis - bei vielen Produkten in Russland tricksen die Hersteller. So wird ein Eierkarton zum Internetphänomen und befeuert die Diskussion um steigende Armut im Land.
Betrug am Eierregal? Eine Hühnerfarm aus der Region Udmurtien, rund 1.000 Kilometer östlich von Moskau, hat es Anfang Januar in Russland binnen weniger Tage zu landesweiter Berühmtheit geschafft. Der Grund: Neben der in russischen Supermärkten handelsüblichen 10er-Packung hat der Geflügelbetrieb "Waraksino" seit einiger Zeit nun auch Eierkartons mit nur neun Eiern im Angebot.
Im russischen Internet avancierte die vermeintliche Neuerung binnen Stunden zu einem Meme - und zum Symbol für die sinkende Kaufkraft der Russen. Nutzer teilten das Bild tausendfach, meist versehen mit empörten Kommentaren zur sozialen Lage im Land. Selbst die staatlichen TV-Sender griffen das Thema auf.
Schrumpfflation keine Neuheit für russische Verbraucher
Tatsächlich ist das Phänomen, das im Ökonomenjargon Shrinkflation genannt wird, zu Deutsch Schrumpfflation, keine Neuheit für russische Verbraucher. Weil es bei Verpackungen keine gesetzlichen Volumen-Normen gibt, ist im Supermarkt Obacht angebracht. Seit Jahren schon füllen einige Hersteller Milch nicht mehr literweise ab, sondern in Tetrapacks mit 970 oder 930 Millilitern.
Ein volles Kilogramm Reis oder Buchweizen ist mittlerweile eine Seltenheit. Die meisten Verpackungen haben nur noch 800 oder 900 Gramm. Und auch Hersteller von löslichem Kaffee sparen, wo es geht und füllen ihre Gläser zum Beispiel nur noch mit 95 Gramm Kaffeegranulat. Statt die Preise zu erhöhen, versuchen Hersteller mit diesem Trick die Preissteigerung zu kaschieren.
Die russische Statistikbehörde Rosstat gab an, dass der Eierpreis im vergangenen Jahr um 26 Prozent zugelegt habe. Und so hat ausgerechnet die neue Eierverpackung erst jetzt den Nerv der russischen Öffentlichkeit getroffen. Dabei erklärte der dänische Hersteller der Neuner-Kartons solche Verpackungen bereits seit zehn Jahren an russische Hühnerfarmen zu liefern.
Einkommen sinken fünf Jahre in Folge
Einer der Gründe, warum das Thema jetzt plötzlich Aufmerksamkeit bekommt, sind die wachsenden sozialen Sorgen der Russen. Im vergangenen Jahr hatte die Regierung nicht nur eine Erhöhung des Renteneintrittsalters, sondern auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 18 auf 20 Prozent beschlossen. Steigende Gebühren und Tarife sowie eine höhere Verschuldung der Haushalte sorgen dafür, dass die frei verfügbaren Einkommen mittlerweile seit fünf Jahren sinken. Diese Größe misst, wie viele Mittel die Haushalte zur Verfügung haben, nach Abzug aller Fixkosten und Rechnungen wie Kreditzinsen oder der Rechnung für Strom und Wasser. Verglichen mit 2013 ist die Summe der frei verfügbaren Einkommen unter Berücksichtigung der Inflation um etwa zehn Prozent gesunken.
Einerseits haben sich die verfügbaren Einkommen seit der Jahrtausendwende fast verdoppelt: Vor allem zwischen 2000 und 2007 legten die Reallöhne jährlich um 9 bis 15 Prozent zu. Selbst die zweistelligen Inflationsraten konnte der Anstieg locker übertünchen. Nach der Finanzkrise 2009 aber ebbte das Wachstum merklich ab und rutschte 2014 ins Minus, nachdem der gesunkene Ölpreis und Sanktionen Russlands Wirtschaft stagnieren ließen. Seitdem wuchs auch die Zahl der Armen von 14 auf etwa 20 Millionen. Und das, obwohl die Armutsgrenze in Russland aktuell bei äußerst bescheidenen 135 Euro liegt. Laut einer Umfrage des privaten Levada-Instituts empfinden 61 Prozent der Russen die Armut im Land als beschämend. 2015 lag der Wert noch bei 56 Prozent.
Putins Beliebtheit im Keller
Diese Ergebnisse dürften auch im Kreml für Besorgnis sorgen. Schließlich machen die sozialen Probleme von Millionen Russen auch vor der scheinbar unanfechtbaren Popularität des Präsidenten Wladimir Putin keinen Halt. Umfragen des staatlichen FOM-Instituts zufolge würden aktuell nur noch 47 Prozent der Russen für Putin stimmen. Im vergangenen Frühjahr, vor der Ankündigung der umstrittenen Rentenreform und der Erhöhung der Mehrwertsteuer, lag der Wert noch 20 Prozentpunkte höher. Vor allem die Steuererhöhung dürfte im laufenden Jahr die Preise weiter steigen lassen. Die russische Zentralbank schätzt die Inflation für das laufende Jahr auf 5 bis 5,5 Prozent.
Putins Sprecher Dmitrij Peskow ließ vor wenigen Tagen verlautbaren, dass die Bekämpfung der Armut für den Präsidenten von höchster Priorität sei. Nach der jüngsten Wiederwahl im vergangenen März gab Putin das Ziel aus, die Zahl der Armen bis 2024 zu halbieren. Eine Aufgabe, die selbst in der Regierung als hochgegriffen gilt. Vergangenen September erklärte die für Soziales zuständige Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa, dass es derzeit keine ausreichenden Instrumente dafür gäbe. Arbeitsminister Maxim Topilin erklärte seinerseits kürzlich, dass die vollständige Beseitigung von Armut jährlich bis zu zehn Milliarden Euro an zusätzlichen Mitteln aus dem Haushalt kosten würde. Geld, das im russischen Budget nicht vorgesehen ist. Im laufenden Jahr will sein Ministerium dennoch zusätzliche "Instrumente zur Armutsminderung" ausarbeiten.
Forderung nach Standards
In der Duma dagegen haben sich einige Abgeordnete bereits auf Hersteller, wie die Hühnerfarm Waraksino, eingeschossen. In einem Brief an das Ministerium für Industrie- und Handel fordert etwa Michail Djyagterjow von der pseudo-oppositionellen Partei LDPR das Verbot von nicht standardisierter Verpackung für Grundnahrungsmittel wie Eier oder Milch.
"Manchmal erkennen die Menschen erst zu Hause, dass sie weniger gekauft haben, als sie eigentlich wollten und fühlen sich betrogen. Genau darauf hoffen unredliche Hersteller", schreibt der Politiker. Das führe zu großer Besorgnis bei den Bürgern und schaffe Möglichkeiten, Verbraucher hinter das Licht zu führen.
Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im TV: 09.11.2018 | 17.45 Uhr