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Corona-KriseRussland: Misstrauen gegen Moskau

09. Mai 2020, 05:00 Uhr

Die Zahl der Corona-Infizierten in Russland steigt unaufhörlich. In den letzten Tagen kamen täglich 10 000 Neuinfektionen hinzu – eine Ausnahmesituation. Die offizielle Zahl der Toten steigt kaum. Es gibt viele Spekulationen über das wirkliche Ausmaß der Pandemie in Putins Reich. Ein Gespräch mit unserem Ostblogger Maxim Kireev über eine abgesagte Parade und ein misstrauisches Volk.

von Maxim Kireev, Sankt Petersburg

Russland überholt Deutschland, ausgerechnet in den Corona Infektionszahlen und ausgerechnet vor dem 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Zum Jubiläum des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland war in Moskau eine große Parade geplant. Dann kam Corona und die Festlichkeiten wurden auf unbestimmte Zeit verschoben und überhaupt prägt das Virus das Alltagsleben. Was bedeutet es für Sie, dass die Parade abgesagt wurde?

Ich kann das nur begrüßen, unter den jetzigen Umständen, weil das zeigt, dass die Regierung sich des Ernstes der Lage bewusst ist. Denn nicht alle Sowjetrepubliken haben die Parade abgesagt. Weißrussland zum Beispiel nicht. Und es ist auch ein Zeichen an die Bevölkerung, die Epidemie ernster zu nehmen. Ich bin mir aber sicher, dass die Parade zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt wird, weil das für die Regierung und auch für viele Menschen im Land sehr wichtig ist.

Maxim Kireev

Die Corona-Situation in Russland hat sich sehr schnell verschärft. Dabei wurden Anfang April erst sehr wenige Fälle vermeldet. Jetzt hat sich die Zahl der Infizierten fast verzehnfacht. Woran liegt das?

In Russland wird jetzt sehr viel getestet, mittlerweile wahrscheinlich mehr als in Europa. Ich glaube, der jetzige Stand sind fünf Millionen Tests insgesamt. Deswegen ist der Effekt so, dass die Statistik langsam an die Realität heranreicht. Allein die Moskauer Stadtregierung schätzt, dass sich in der Hauptstadt schon jetzt etwa 300.000 Menschen infiziert haben, doppelt so viele wie für ganz Russland derzeit offiziell ausgewiesen werden. Das spricht dafür, dass die Zahlen weiter steigen. Es gab vorher schon die Infiziertenzahlen aber sie erhöhen sich jetzt durch die ganzen Tests. Gleichzeitig waren nicht alle Quarantänemaßnahmen effektiv. Das muss man auch sagen. Zum Beispiel kam es nach der Einführung der elektronischen Passierscheine in Moskau, die eigentlich die Bewegung der Menschen reduzieren sollten, an den Kontrollpunkten zu Menschentrauben. Viele haben sich da bestimmt auch gegenseitig angesteckt. Diese Kontrollen wurden erst nachträglich automatisiert.

Maxim Kireev

Wie prägen Maßnahmen der Regierung gegen das Virus den Alltag?

Auf den ersten Blick unterscheidet sich der Alltag in Russland nicht so sehr von der Situation in Deutschland. Also Cafés und Restaurants waren bisher zu, Museen und Schulen auch. Aber das betrifft längst nicht alle. Die meisten Fabriken und größeren Betriebe arbeiten bis heute weiter. Baustellen waren zum Beispiel in St. Petersburg nie geschlossen. In den Läden ist es recht voll und nur die wenigsten benutzten tatsächlich Masken, weil aus auch keine Maskenpflicht gibt. Die soll erst am 12. Mai eingeführt werden.

Maxim Kireev

Was hören Sie von den Menschen auf der Straße? Wie wird die neue Situation aufgenommen?

Noch halten viele Russen das Virus für harmlos und verzichten auf Masken, Besuchen Freunde und halten keinen Abstand. Die Menschen reagieren mit Misstrauen. Vor allem gegen die Maßnahmen, die die Regierung umgesetzt hat und die Informationsarbeit. Einige sind unzufrieden, weil sie ja in der Statistik sehen, dass die Quarantäne nicht funktioniert. Andere wiederum halten das alles für harmlos, glauben an wilde Verschwörungstheorien. Zum Beispiel musste sogar zuletzt eine Sendung aus dem Staatsfernsehen aus dem Netz genommen werden, weil da diese Bill-Gates-Verschwörungstheorie verbreitet wurde. Dass er von Corona profitiere und alle jetzt einen Chip bekommen. Hier besteht noch großer Aufklärungsbedarf.

Maxim Kireev

Die gemeldeten Totenzahlen sind sehr niedrig, woher kommt das?

Es ist wie ein Hoffnungsschimmer, die niedrigen Totenzahlen. Doch auch hier gibt es Kritik an der Glaubwürdigkeit. Oft wird als Todesursache nicht Corona, sondern eine andere Erkrankung des Patienten ausgewiesen. Zudem wird regional sehr unterschiedlich gezählt. In Sankt-Petersburg zum Beispiel beschließt eine Kommission, wer als Corona-Toter gilt. Das führt dazu, dass die Anzahl der Toten der Statistik um anderthalb Wochen hinterherhinkt. Vor diesem Hintergrund dürfte auch diese traurige Statistik weiter ansteigen.

Maxim Kireev

Das Gespräch führte Andrea Jope.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 09. Mai 2020 | 07:00 Uhr

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