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WehrertüchtigungPolnische Armee trainiert Bürger für den Ernstfall

15. November 2022, 15:52 Uhr

In Polen können Zivilisten den Umgang mit Waffen lernen, bei einem kostenlosen Tageskurs der Armee. Viele Interessenten haben sich bereits gemeldet, sie wollen sich besser auf einen möglichen Ernstfall vorbereiten. Mit dem Schnupperkurs will die Armee aber auch Nachwuchs rekrutieren. Polen hat seit der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht eine Berufsarmee, die nun deutlich aufgestockt werden soll.

von Michał Kokot, Breslau

Polens Armee bietet derzeit eintägige Schnupperkurse an. Unter dem Motto "Trainiere mit dem Militär!" wirbt die Armee für die polenweite Freiwilligenaktion, an der sich Männer und Frauen zwischen 18 und 65 Jahren beteiligen können.

Als Polens Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak unlängst zu einem der Kurse in die Kleinstadt Morag reiste, spürte er "große Freude" angesichts des regen Interesses. So lernten die Teilnehmer den Umgang mit Waffen und wichtige "Grundkenntnisse, wie ein Feuer zu machen oder verunreinigtes Wasser aufzubereiten".

Teilnehmer kommen aus Angst oder Neugierde

Polnische Medien berichteten zuletzt von "begeisterten Teilnehmern" aus allen Alters- und Berufsschichten. Manche hätten schon immer von der Armee geträumt, seien aber aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert worden. Andere wollten sich auf einen möglichen Ernstfall vorbereiten. Umfragen zufolge herrscht bei der Mehrheit der Polen die Angst, dass sich der russisch-ukrainische Krieg womöglich auf ihr Land ausweiten könnte. Andere wiederum wollen beim Tageskurs erfahren, was man beim Schießen alles beachten müsse. Scharfe Waffen bekommen die Teilnehmer aber nicht in die Hand, vielmehr üben sie an einem Simulator.

Vom Schnupperkurs bis "freiwilliger Wehrdienst"

Eine allgemeine Wehrausbildung für Männer gibt es in Polen seit Jahren nicht mehr, 2008 war die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft worden. Polens Armee setzt daher auf Freiwilligkeit, seit Beginn des Krieges im ukrainischen Nachbarland ist das Interesse an einer militärischen Grundausbildung enorm gestiegen. Dem Verteidigungsministerium zufolge haben sich allein in diesem Jahr 13.000 Interessenten zum Militär gemeldet – nicht für einen eintägigen Schnupperkurs, sondern für einen sogenannten freiwilligen Wehrdienst, der auf ein Jahr ausgelegt ist. Das Angebot hatte das Verteidigungsministerium kurzerhand im Frühjahr eingeführt, wenige Wochen nachdem Russland seinen Angriff auf die Ukraine gestartet hatte. Wer sich für das freiwillige Militärjahr entscheidet, kann eine Auszeit vom Job nehmen, ohne ihn zu verlieren. Wer will, kann nach dem Jahr auch Berufssoldat werden.

Langfristig will das Verteidigungsministerium die Truppenstärke seiner Berufsarmee verdoppeln: von derzeit rund 110.000 auf 250.000 Soldatinnen und Soldaten. Hinzu kommen 30.000 Mitglieder des freiwilligen Heimatschutzes WOT. Auch hier soll aufgestockt werden: Gut 50.000 sogenannte Heimatschützer sollen es in Zukunft sein.

Militär muss Grenzzäune bauen

Vergrößert werden soll die Berufsarmee auch, weil sie zuletzt immer mehr Aufgaben zugewiesen bekommen hat. Seit Januar baut das Militär einen rund 200 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Belarus, um die Einwanderung von Migranten an dieser Stelle zu verhindern. Im vorigen Jahr hatte das Regime des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko gezielt Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika mit dem falschen Versprechen einer schnellen Einreise in die EU ins Land gelockt, um in Wirklichkeit eine Migrationskrise herbeizuführen und die politische und soziale Lage in der EU zu destabilisieren. Zwischenzeitlich warteten Tausende Migranten an der belarussisch-polnischen Grenze auf eine Einreise.

Illegale Einreiseversuche deutlich zurückgegangen

Der polnische Grenzschutz bewirbt den 340 Millionen Euro teuren Grenzzaun zu Belarus als einen Erfolg. Es gebe mittlerweile deutlich weniger illegale Grenzübertritte: Sie seien binnen eines Jahres von rund 7.600 auf gut 1.300 zurückgegangen. Zur russischen Enklave Kaliningrad soll jetzt ein ähnlicher Grenzzaun entstehen, um auch dort illegale Übertritte unmöglich zu machen.

Experten glauben jedoch, dass die Grenzwege nach Polen für Migranten inzwischen nicht mehr attraktiv seien. Der frühere Vize-Verteidigungsminister, General Waldemar Skrzypczak, sagte unlängst dem Online-Magazin "Fronda", die Migranten wüssten, dass sie betrogen worden seien und die Grenze zu Polen dicht sei: "Daher erwarte ich nicht mehr allzu viele Menschen über diese Einwanderungsroute".

Experte: "Hoch motivierte Gesellschaft" nötig

Die neuen Grenzzäune zeigen auch, wo Polen die größte Bedrohung für sich sieht: in Russland und Belarus. Dass Verteidigungsministerium unterzeichnete im Sommer mit Südkorea einen Milliardendeal über die Lieferung von neuem Kriegsgerät, wie neue Panzer, Haubitzen und Kampfflugzeuge, um sich für den Ernstfall zu wappnen. Hinzu kommt die massive Ausbildung von militärisch Interessierten.

Doch reicht ein eintägiger Kurs überhaupt aus, um nennenswerte militärische Grundkenntnisse zu bekommen? Boguslaw Pacek ist skeptisch. Es bedürfe einiger Wochen Ausbildung, um Zivilisten wichtige Grundkenntnisse der Verteidigung und für das Überleben beizubringen, sagt der frühere Rektor der höchsten militärischen Lehreinrichtung in Polen im Interview mit der MDR-Osteuroparedaktion. Dennoch hält er den Ausbildungstag für äußerst nützlich. Im Falle eines Krieges brauche man nicht nur Soldaten und hochqualifiziertes Personal: "Um einen Krieg zu gewinnen, ist auch eine hoch motivierte Gesellschaft nötig", sagt Pacek. Wie wichtig die sei, könne man derzeit beim Ukrain-Krieg sehen. Dort stelle sich gerade der große Teil der Bevölkerung dem russischen Aggressor entgegen.

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL RADIO | 02. November 2022 | 11:45 Uhr