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Die Beziehungen zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan und Russlands Präsidenten Putin stehen vor einer Zerreißprobe. Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Türkei-Russland-BeziehungBerg-Karabach: Putin zögert, Erdogan zündelt

02. Oktober 2020, 16:17 Uhr

Ein neuer Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im Kaukasus kostet Hunderte Menschen das Leben und stellt ein Moskauer Militärbündnis vor eine Zerreißprobe. Eine Verwicklung in einen weiteren Konflikt käme für Putin alles andere als gelegen.

von Maxim Kireev, St. Petersburg

Es sind Bilder von brennenden Panzern und explodierenden Militärlastern, die die Verteidigungsministerien von Armenien und Aserbaidschan derzeit in die Welt senden. Beide Seiten wollen so Erfolge in einem Krieg für sich beanspruchen, der am Wochenende scheinbar über Nacht wieder ausgebrochen ist.

Aufnahmen aus den jeweiligen Hauptstädten Jerewan und Baku zeigen wütende Männer in Camouflage, bereit als Freiwillige an die Front zu ziehen, während Alte, Frauen und Kinder in der von beiden Seiten umkämpften Region Berg-Karabach nun in bombensicheren Unterkünften übernachten müssen.

Kriegszustand in Armenien

Seit Sonntag herrscht wieder Krieg im Kaukasus, bei dem zum aktuellen Zeitpunkt laut aserbaidschanischem Verteidigungsministerium weit mehr als 100 Soldaten und Zivilisten ums Leben kamen. Die Konfliktparteien streiten sich um Nagorno-Karabach, eine Gebirgsgegend halb so groß wie Sachsen. Heute wohnen dort gerade einmal 150.000 Menschen, fast ausschließlich christlich-orthodoxe Armenier.

Konflikt existiert schon lange

Die Gegend ist ein historischer Zankapfel, um den immer wieder auch blutig gekämpft wird. Zum Krieg kam es zuletzt vor 30 Jahren, als die Sowjetunion auseinander fiel. Damals gehörte das autonome Gebiet Berg-Karabach völkerrechtlich zum muslimisch geprägten Aserbaidschan. Ein Umstand den die Armenier von Karabach nicht dulden wollten. Sie riefen die Unabhängigkeit aus. Ein blutiger Bürgerkrieg begann, bei dem das kleinere Armenien nach jahrelangen Kämpfen nicht nur Karabach, sondern auch einige umliegende Gebiete Aserbaidschans besetzen konnte.

Die Unruheregion Berg-Karabach liegt zwischen Armenien und Aserbaidschan – beide Länder sind miteinander verfeindet. Bildrechte: MDR/OpenStreetMap Contributors

Nach unterschiedlichen Schätzungen vertrieb der Krieg damals insgesamt etwa eine Million Menschen in beiden Ländern. 25.000 Menschen starben. Erst auf Vermitteln Russlands und des Westens unterzeichneten beide Länder 1994 einen Waffenstillstand, der seit dem als Status Quo gilt. Offiziell bleibt Karabach Teil Aserbaidschans. Faktisch jedoch hält Armenien etwa 20% der aserbaidschanischen Gebietes besetzt, weitaus mehr, als die Fläche der umstrittenen Gegend.

Internationale Dimension: Türkei als neuer Akteur

Es ist eine Wunde, die nie richtig verheilte, weshalb es immer wieder zu kleineren Scharmützeln und Gefechten kam. Zuletzt starben 2016 bei Kämpfen Dutzende Menschen auf beiden Seiten.

In den letzten Tagen konnten aserbaidschanische Truppen nun offenbar zumindest einige Kilometer der besetzten Gebiete zurückerobern. Doch die jüngsten Kampfhandlungen sind weitaus mehr, als nur das Aufflammen eines alten Konflikts. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat der Streit das Zeug zu einer großen internationalen Krise zu werden.

Denn während früher Russland als Schutzmacht Armeniens der wohl wichtigste regionale Akteur gewesen ist, kommt nun mit der Türkei eine neuer mächtiger Spieler aufs Feld. Kulturell und sprachlich sind sich Türkei und Aserbaidschan sehr nahe. Russland seinerseits unterhielt bislang gute Beziehungen sowohl zu Armenien als auch zu Aserbaidschan. So lieferte Moskau Waffen an beide Seiten und wollte eine all zu enge Kooperation zwischen Aserbaidschan und der Türkei verhindern.

Gleichzeitig jedoch ist Armenien Teil des von Russland dominierten Militärblocks ODKB*. Bei einem unmittelbaren Angriff auf Armenien müsste die russische Armee schützend Eingreifen, so besagt es Artikel 4 des ODKB-Vertrags. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew, ein Autokrat, studierte einst in Moskau und pflegte ebenfalls gute Beziehungen zu Wladimir Putin.

*ODKBDie Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit ist ein von Russland geführtes internationales Militärbündnis. Mitglieder sind neben Russland Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Belarus.

Aserbaidschan sucht die Nähe der Türkei

Zuletzt jedoch suchte Alijew jedoch immer deutlicher die Nähe zum kulturellen Bruderland Türkei, auch weil er innenpolitisch zusehends unter Druck geraten ist. Erst im Juli demonstrierten nach erneuten Kämpfen an der Kontaktlinie in Nagorno-Karabach Zehntausende in der Hauptstadt Baku und forderten ein militärisches Eingreifen der Regierung.

Alijew kritisierte die Demonstranten damals als Provokateure. Gut zwei Monate später spricht nun der aserbaidschanische Präsident von einem "vaterländischen Krieg", während Erdogan ihm volle Unterstützung ausspricht. "Es sei an der Zeit , die armenische Besatzung zu beenden", sagte Erdogan. Die Türkei werde Aserbaidschan mit "allen Ressourcen und aus vollem Herzen" beistehen.

In Russland kommen solche Worte nicht gut an. In Moskau sind die meisten Beobachter überzeugt, dass neben innenpolitischem Druck erst die türkische Unterstützung den aserbaidschanischen Präsidenten dazu trieb, auf eine militärische Lösung zu setzen. "Aserbaidschan verfügt über eine deutlich größere Armee, eine doppelt so große Bevölkerung und kaufte in den vergangenen fünf Jahren Waffen für über 20 Milliarden Euro mehr als doppelt so viel wie Armenien. Nur Aserbaidschan hatte das Interesse den Status Quo zu verändern", sagt Arkadi Dubnow, der Karabach-Experte vom Moskauer Carnegie Center.

Putins Dilemma: Türkei ist auch Partner

Anders als für Erdogan und Aliew, die sich nun daheim als starke Männer präsentieren können, stellt der Konflikt Russland und Putin vor ein Dilemma. Während die Türkei Armenien als eine Art Schurkenstaat sieht, steht für Moskau ein kompliziertes Geflecht aus Beziehungen auf dem Spiel. Die Türkei wird gebraucht als Partner in Syrien und Abnehmer von Öl und Gas.

Auch den Einfluss in Aserbaidschan will Moskau erhalten. Es sei wichtiger die Kämpfe zu stoppen, statt zu schauen wer Schuld ist und wer Recht hat, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Moskau wolle seine guten Beziehungen zu beiden Seiten nutzen, um eine weitere Eskalation zu verhindern, hieß es weiter.

Insbesondere vor dem Hintergrund der eindeutigen türkischen Haltung wirkt Moskaus Reaktion eher schwammig und zögerlich. Experten wie Dubnow überrascht dies nicht. Angesichts der Krise in den Beziehungen mit dem Westen nach der mutmaßlichen Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny und der weiterhin angespannten Lage in Belarus, wäre ein weiterer Krisenherd alles andere als im Interesse Moskau. Gleichzeitig waren in Moskau viele zuletzt nicht ganz glücklich über den zusehends unabhängigen Kurs des armenischen Regierungschefs Nikol Paschinjan, der seinen moskautreuen Vorgänger Sersch Sargsjan nach einer friedlichen Revolution und freien Wahlen 2018 ablöste.

Armenien sorgt in Russland für Irritationen

In Armenien sorgt die russische Haltung für Irritationen. Öffentliche Kritik an der russischen Politik gibt es keine. Gleichzeitig wirft Russlands Haltung in der politischen Elite und in der armenischen Gesellschaft Fragen auf.

Der Verdacht liegt nahe, heißt es in Eriwan hinter vorgehaltener Hand, dass Putin mit dem einstigen Revolutionsführer Nikol Paschinjan nicht viel anfangen könne. Und das obwohl sich Armenien zuletzt überaus loyal zu Russland verhalten habe, etwa als Paschinjan dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko zum äußerst umstrittenen Wahlsieg gratulierte.

Russland seinerseits sieht sich derzeit offiziell noch nicht in der Pflicht. Da Karabach kein anerkanntes Gebiet ist, sondern Teil von Aserbaidschan, gilt die Schutzklausel des Militärbündnisses derzeit nicht. Offenbar hofft Moskau darauf, dass der Konflikt auf dieses umstrittene Gebiet beschränkt bleibt und sein Militärbündnis nicht weiter auf die Probe gestellt wird.

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL RADIO | 27. September 2020 | 10:30 Uhr

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