Bulgarien: Feldzug gegen Korruption und organisierte Kriminalität
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So viele inhaftierte und flüchtige Oligarchen, Spitzenbeamte im Gefängnis, Anklagen gegen Ex-Minister und staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen Abgeordnete hat Bulgarien schon lange nicht mehr gesehen. Staatsanwaltschaft und Polizei legen eine Offensive hin, die an die Anfänge der ersten Regierung von Ministerpräsident Borissov um den Jahreswechsel 2009/2010 erinnert. Beobachter sehen einen Zusammenhang zum anstehenden Bericht der EU-Kommission, der am Dienstag veröffentlicht werden soll.

Einen Vorgeschmack auf die aktuelle Großoffensive gegen Korruption und organisierte Kriminalität lieferte bereits Mitte April 2018 die aufsehenerregende Verhaftung einer Bezirksbürgermeisterin von Sofia. Desislava Ivantscheva, die Rathauschefin des Sofioter Bezirks Mladost, musste damals fünf Stunden an einer belebten Straßenkreuzung in Handschellen ausharren. So lange dauerte es, bis Polizeibeamte die Nummern präparierter Banknoten im Werte von 70.000 Euro aus Ivantschevas Auto notiert hatten. Ivantscheva bestreitet zwar, es von einem Bauunternehmer erpresst zu haben, sitzt aber seit mehr als einem halben Jahr zusammen mit ihrer Stellvertreterin in Untersuchungshaft. Ihre Anhänger sehen sie als das Opfer einer politischen Intrige.
High Society in Haft oder auf der Flucht
Der Fall Ivantscheva blieb zunächst die einzige spektakuläre Polizeiaktion während Bulgariens EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2018. Seit dem Ende der parlamentarischen Sommerpause geht es aber Schlag auf Schlag. Ende August 2018 entzog sich der Hotelier Vetko Arabadschiev in Saint Tropez seiner Verhaftung durch Flucht. Während des EU-Ratsvorsitzes hatte das dritte Kabinett von Ministerpräsident Borissov in Arabadschievs Sofioter Hotel "Marinella" noch seine Brüsseler Gäste untergebracht. Kurz nach Arabdschiev wurde dann der Spirituosenfabrikant Minju Staykov im bulgarischen Karnobat festgenommen. Sein Rakija (Traubenschnaps) war bei den EU-Banketten ausgeschenkt worden. Und danach wurden der Besitzer der insolventen Chemiefabrik Polimeri, Nikolai Banev, und seine Gattin Evgenia in Nizza verhaftet.
Allen gemeinsam ist ihr Ruf als "Oligarchen". Ruhm und Reichtum haben sie der Privatisierung von Staatsunternehmen zu verdanken. Seit vielen Jahren liefert ihr luxuriöser Lebenswandel Stoff für die Klatschspalten der bunten Gazetten. Nun sehen sie sich mit Anschuldigungen wie Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Konkursbetrug konfrontiert.
Der Korruption in den höheren Etagen der Macht auf der Spur
Nicht nur die Oligarchie ist ins Visier von Bulgariens staatlichem Apparat geraten, auch die "Korruption in den höheren Etagen der Macht". So ist über Nacht aus dem Leiter der staatlichen "Agentur für die Bulgaren im Ausland", Petar Harlampiev, ein "Anführer einer kriminellen Vereinigung" in Untersuchungshaft geworden. Ihm und seinen mutmaßlichen Kollaborateuren wirft die Staatsanwaltschaft einen florierenden Handel mit Abstammungsnachweisen vor. Durch Erwerb solcher Bescheinigungen bulgarischer Herkunft sollen sich tausende Mazedonier, Albaner, Kosovaren, Moldawier und Ukrainer ohne Verwandschaftsbeziehungen zu Bulgarien bulgarische Pässe und damit die Freizügigkeit in der Europäischen Union erschlichen haben.
Zuletzt forderte die Staatsanwaltschaft Anfang November 2018 für sechs Abgeordnete der bulgarischen Volksversammlung, ihre parlamentarische Immunität aufzuheben, um Ermittlungsverfahren gegen sie einleiten zu können. Vesselin Mareschki, Unternehmer und Parteiführer der oppositionellen Partei "Wolja" (Wille), und die TV-Journalistin Elena Jontscheva von der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) sind die prominentesten unter ihnen. Mareschki soll Geschäftspartner genötigt haben, Jontscheva steht unter dem Verdacht der Geldwäsche.
Eine von Elena Jontscheva geführte Offshore-Firma soll im Jahr 2012 nach Angaben der Staatsanwaltschaft 160.000 Leva (umgerechnet 80.000 Euro) unrechtmäßig von der inzwischen bankrott gegangenen Handelsbank Korporativna Targovska Banka (KTB) erhalten haben. Das Geld habe sie vom Fernsehsender TV 7 für den Ankauf technischer Ausrüstung zur Produktion von Dokumentarfilmen aus der Türkei, der Ukraine und Syrien erhalten, rechtfertigt sich die Sozialistin Jontscheva. "Das sind Attacken gegen mich von GERB-Abgeordneten (GERB ist die Abkürzung für die derzeitige Regierungspartei "Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens" unter dem Vorsitz von Ministerpräsident Boiko Borissov - Anm. der Redaktion), die bereits lange andauern. Es gibt in diesem Ermittlungsverfahren keinen einzigen Fakt, der die Beschuldigungen beweisen könnte", bestreitet sie, irgendetwas Unrechtmäßiges getan zu haben.
Freispruch für den "Kopf der Mafia" nach acht Jahren
Wird sich Bulgariens aktuelle Offensive gegen Korruption und organisiertes Verbrechen als effektiver erweisen als die damalige vom Beginn der Ära Borissov? Manche Beobachter bezweifeln dies. Die wenigsten der damals im Rahmen von Polizeioperationen mit kuriosen Codenamen wie "Killerite" (die Killer), "Naglite" (die Frechen), "Peperudite" (die Schmetterlinge) und "Fakirite" (die Fakire) Verhafteten wurden rechtskräftig verurteilt. Viele von ihnen haben aber den bulgarischen Staat erfolgreich vor dem Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg auf Entschädigungszahlungen verklagt.
Alexej Petrov zum Beispiel, genannt "Traktora" (der Traktor), ist einer derjenigen, die von Straßburg Entschädigung für ihre Zeit in Untersuchungshaft zugesprochen bekommen haben. Der frühere Geschäftspartner von Regierungschef Borissov war im Februar 2010 als "Chef der kriminellen Vereinigung Oktopod" (Oktopus) und "Kopf der bulgarischen Mafia" verhaftet worden. Das Sofioter Spezialgericht für Organisierte Kriminalität sprach Petrov in der vergangenen Woche nun aber erstinstanzlich in allen Anklagepunkten frei.
EU-Kommission evaluiert wieder Rechtsstaatlichkeit
Nicht nur der bescheidene Erfolg der Anti-Korruptions-Offensive von vor neun Jahren lässt Beobachter skeptisch sein. Nicht wenige vermuten einen Zusammenhang mit dem neuesten Evaluierungsbericht der EU-Kommission über die Fortschritte Bulgariens in Sachen Rechtsstaatlichkeit. Der Bericht soll am Dienstag veröffentlicht werden. Die jährliche Evaluierung auf diesem Gebiet war für Bulgarien und Rumänien beim EU-Beitritt 2007 vereinbart worden, weil beide Staaten damals noch nicht alle Vorgaben im Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen sowie zur Stärkung der Justiz erfüllten.
Über dieses Thema berichtete MDR Aktuell auch im: TV | 11.01.2018 | 19:30 Uhr