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Helden des Großen Vaterländischen Krieges stehen in Russland hoch im Kurs. Sie sind auch Sinnbild für die einstige Weltmacht UdSSR. Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

AuferstehungRusslands Träume von der Weltmacht

31. Januar 2022, 05:00 Uhr

Russland hält die Welt seit Monaten in Atem. Der Kreml spielt mit den Muskeln, der Westen reagiert. Putin betrachtet sein Land als legitimen Erben der Sowjetunion. Und will, wie einst die UdSSR, Weltmacht sein. Doch mit der war es am 31. Dezember 1991 vorbei. Bereits fünf Tage zuvor war die rote Fahne auf dem Kreml eingeholt worden. Die ehemaligen Sowjetrepubliken suchen seither ihren Platz im Weltgefüge. Was sie eint: Sie definieren sich vor allem auch durch ihre Beziehung zum mächtigen Russland.

Der Zusammenbruch des kommunistischen Riesenreiches war ganz und gar einzigartig. Das sowjetische Imperium umfasste ein Sechstel der Erdoberfläche mit insgesamt 280 Millionen Einwohnern. Eine Großmacht hatte sich letztlich selbst abgeschafft. Im Westen staunte man über den rasanten und dabei doch recht stillen Zerfall des Landes. Für Präsident Wladimir Putin gilt das Ende der Sowjetunion als "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Vor allem die Ukraine bekommt seit Jahren zu spüren, dass Putin ganz offensichtlich daran arbeitet, alte Macht- und Einflußzonen wieder herzustellen.

Wladimir Putin: Der Zerfall der UdSSR ist die "größte geopolitische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts" Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Gemeinschaft Unabhängiger Staaten

Auf Initiative Russlands wurde im Dezember 1991 versucht, auf den Trümmern der UdSSR eine neue Staatengemeinschaft zu errichten. Das Taurische Palais in St. Petersburg sollte Sitz der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) sein, einer Organisation ehemaliger Sowjetrepubliken. Die drei baltischen Staaten winkten freilich sofort ab, Georgien erbat sich Bedenkzeit. Gegründet wurde die Gemeinschaft dennoch und existiert seit nunmehr dreißig Jahren. Sie hat heute allerdings nur noch symbolische Bedeutung. "Wenn man dieses Abkommen liest: einheitliche Währung, einheitliche Zollpolitik... Nichts davon wurde jemals umgesetzt", erzählt Ruslan Grinberg, Direktor des Institut für Wirtschaft der Akademie der Wissenschaften in Moskau. "Keine einzige Republik hatte damals tatsächlich die Absicht, sich dem russischen Präsidenten Jelzin unterzuordnen."

Seither jedenfalls suchen 15 neue Staaten ihren Platz im Weltgefüge. Manche der einstigen Sowjetrepubliken orientieren sich in Richtung Westen, andere wieder binden sich eher an China. Alle aber definieren sich vor allem auch durch ihre Beziehung zum mächtigen Russland.

Die Ukraine

Die Ukraine verfügte sicherlich über die besten Voraussetzungen beim Start in die Unabhängigkeit. Das Land galt einst als Kornkammer der Sowjetunion und besaß durchaus bedeutende Industrieansiedlungen, vor allem in der Donbass-Region. Doch das Land steckt heute in einer veritablen Krise. Auch Präsident Wolodimir Selenski, der angetreten war, das Land umfassend zu modernisieren, ist es nicht gelungen, die Erwartungen der Ukrainer an Wohlstand und Frieden zu erfüllen. Das Land gilt heute als das korrupteste in Europa. Und es befindet sich in einem Dauerkonflikt mit dem mächtigen Nachbarn Russland. Erst vor einigen Wochen hat der russische Präsident Truppen an die gemeinsame Grenze verlegen lassen und droht unverhohlen mit einem Einmarsch in die Ukraine. Putin verlangt Sicherheitsgarantien: Die Ukraine dürfe unter keinen Umständen Mitglied der NATO werden.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski Bildrechte: imago/ITAR-TASS

Durch die Ukraine geht ein Riss. Während die Menschen im Westen des Landes mehrheitlich einen Beitritt zu NATO und Europäischer Union befürworten, fühlt sich der Osten zu Russland hingezogen. Besonders in den zu Sowjetzeiten industrialisierten Gebieten um Luhansk und Donezk im Donbass. Hier begannen 2014 auch die Proteste der russischen Minderheit gegen die Regierung in Kiew. Sie waren vornehmlich von der Angst getrieben, in einer pro-westlichen, nationalistischen Ukraine diskriminiert zu werden. Und es ist eine durchaus starke Minderheit, denn immerhin acht der 42 Millionen Einwohner der Ukraine sind Russen. Aus den Protesten entwickelte sich mit Unterstützung aus Russland ein separatistischer Aufstand. Ein Bürgerkrieg, der ganz Europa beunruhigte. 2014 wurden schließlich von russischen Separatisten die Volksrepubliken Donezk und Lugansk auf dem Staatsgebiet der Ukraine ausgerufen.

Auf dem Maidan in Kiew 2014 Bildrechte: IMAGO

Symbolträchtiger Ort der Auseinandersetzungen zwischen Russen und Ukrainern in der Ukraine war der Maidan-Platz in Kiew. Hunderttausende gingen ab 2014 auf die Straße und forderten eine Annäherung an den Westen. Die Ukraine war endgültig zwischen die Fronten geraten, hin- und hergerissen zwischen EU und Russland.

Zum Schauplatz einer Eskalation im russisch-ukrainischen Konflikt wurde 2014 die Halbinsel Krim im Süden der Ukraine. Nikita Chruschtschow hatte sie in den 1950er Jahren der Ukraine geschenkt. Russland holte sich die Krim nun wieder zurück. In einem Referendum stimmten sogar die meisten Bewohner der Krim für einen Anschluss an Russland. Heute betrachtet Russland die Krim als Teil seiner Föderation. Eine Brücke, die die Meerenge von Kertsch überspannt, verbindet seit einigen Jahren die Krim mit dem russischen Festland. Sie soll aller Welt unmissverständlich demonstrieren: Die Krim gehört zu uns!

Der Westen verhängte daraufhin Sanktionen gegen Russland, von denen sich Putin aber keineswegs beeindrucken ließ. "Ich glaube, dass Sanktionen generell die Solidarität des Volkes mit der Macht verstärken", sagt Wirtschaftsexperte Ruslan Grinberg. "Zu starke Sanktionen können das Land zerstören, aber auch die Menschen werden darunter leiden. Und dies wird eher zur Unterstützung der Macht, als zu Aktionen gegen diese führen." Putin hat letztlich erfolgreich ein mögliches Bedrohungsszenario abgewehrt – eine an den Westen gebundene Ukraine, in der womöglich sogar NATO-Militär stationiert ist. Und das direkt vor Sewastopol, dem traditionellen Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte.

Belarus

Herbst 2021. An der Grenze zwischen Belarus und Polen hausen Tausende Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in illegalen Camps. Die Geflüchteten fordern die Einreise nach Polen und damit in die Europäische Union. Die Sicherheitskräfte aus Belarus greifen nicht ein. Sie beobachten lediglich das Geschehen. Polen aber riegelt mit einem riessigen Aufgebot an Polizeikräften und Militär die Grenze hermetisch ab. Wir schützen die EU-Außengrenze, heißt es in Warschau. Nach und nach wird ruchbar, dass die Menschen vermutlich auf Anweisung von Präsident Alexander Lukaschenko nach Belarus geholt und zur polnischen Grenze durchgeleitet wurden. Lukaschenko verband mit seinem Vorhaben ganz offensichtlich die Hoffnung, mit der EU ins Gespräch kommen und einen Deal aushandeln zu können nach dem Motto: Ich stoppe den Strom der Migranten, ihr zahlt dafür. Russland hielt sich in dem Grenzkonflikt zwischen Belarus und Polen zurück, bot freilich seine Vermittlung an.

Belarus, das frühere Weißrussland, liegt genau zwischen Europäischer Union und Russland. Wegen der gemeinsamen Geschichte und verwandter Sprache gilt Belarus seit jeher als verlässlicher und treuer Bündnispartner Russlands. Bereits 1999 wurde die Russisch-Belarussische Union ins Leben gerufen – ein Staatenbund, der sich auf eine Verteidigungs- und Wirtschaftsgemeinschaft sowie auf gemeinsame politische Konsultationen stützt.

Seit 1994 regiert Lukaschenko das Land. Er ist ein ehemaliger sowjetischer Politoffizier und Direktor eines Sowchos, eines staatlichen landwirtschaftlichen Betriebes. Nach der Präsidentenwahl 2020 wurde ihm vorgeworfen, das Ergebnis manipuliert zu haben. Hunderttausende Menschen gingen monatelang auf die Straße. Sie forderten Demokratie und den Rücktritt Lukaschenkos. Der aber erwies sich einmal mehr als Diktator. Er ließ Polizei und Sicherheitskräfte mit brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vorgehen. Die Oppositionsbewegung wurde niedergeknüppelt.

Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Lukaschenko und Putin treffen sich immer noch relativ häufig. Aber von einer Union beider Staaten ist kaum mehr die Rede. Viele Vorhaben sind nie verwirklicht worden. Lukaschenko braucht heute vor allem Geld für sein politisches Überleben und Putin will vor allem vermeiden, dass die Proteste von Minsk nach Moskau überschwappen. "Sie trauen einander nicht. Lukaschenko gilt als außenpolitischer Opportunist", sagt der renommierte Slawist Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck. "Aber man hatte auf russischer Seite eben keine personelle Alternative zu Lukaschenko. Also hält man an ihm fest und hat all die Ressourcen bereitgestellt, die es ihm erlaubt haben, bis heute an der Macht zu bleiben. Aber mittelfristig ist Russland an einem Machterhalt Lukaschenkos nicht interessiert."

Kaukasus: Armenien und Aserbaidschan

In der Kaukasusregion lodert seit Jahrzehnten ein Dauerkonflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien, der kleinsten der ehemaligen Sowjetrepubliken, die nicht einmal an Russland grenzt. Beide Staaten beanspruchen die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach. Bereits zu Sowjetzeiten waren die Kämpfe um die Gebirgsenklave entflammt, es gab Schießereien und Pogrome mit vielen Toten. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken konnte die alten ethnischen Konflikte nicht befrieden. Mit der Unabhängigkeit der Staaten war es mit dem Frieden dann endgültig vorbei. 2020 kam es erneut zu einem kriegerischen Konflikt in Bergkarabach. Aserbaidschan gelang es, große Teile von Bergkarabach zurückzuerobern. Armenien musste die Gebietsverluste anerkennen. Seither herrscht ein brüchiger Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan. Überwacht wird er von russischen Friedenstruppen.

Armenische Soldaten 1993 im Kampf um Bergkarabach Bildrechte: IMAGO / Rainer Unkel

Der Konflikt im Kaukasus hat sich mittlerweile ausgeweitet. Das NATO-Mitglied Türkei unterstützt das muslimische Aserbaidschan, während Frankreich dem christlichen Armenien zur Seite steht. Russland bemüht sich um Neutralität, denn Moskau legt auch großen Wert auf gute Beziehungen zum ölreichen Aserbaidschan.

Die baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland

Eine besondere Rolle unter den Nachfolgestaaten der UdSSR spielt das Baltikum. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 wurden Estland, Lettland und Litauen der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen. 1940 marschierte schließlich die Rote Armee im Baltikum ein. Für die drei baltischen Staaten bis heute ein nationales Trauma. Sie waren aber auch die ersten, die sich von der Sowjetunion lossagten und seitdem mehr oder weniger erfolgreich ihren eigenen Weg gehen. Ihr Verhältnis zu Russland ist unterkühlt. Litauen, Lettland und Estland pflegen einen ausgeprägten Nationalstolz.

Die Bindungen der baltischen Staaten an den Westen wurden seit ihrer Unabhängigkeit immer enger. 2004 traten sie schließlich gemeinsam der NATO bei. Die Militärausgaben in den baltischen Staaten sind vergleichsweise beträchtlich. In Litauen etwa liegen sie inzwischen bei gut zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 2021 wurden in Litauen auch große NATO-Manöver abgehalten. Das Misstrauen der baltischen Staaten gegenüber Russland ist natürlich auch ein Erbe der Sowjetzeit. Litauen, Estland und Lettland betrachten Russland als einen potenziellen Aggressor und erwarten Solidarität von NATO und Europäischer Union.

Zentralasien: Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan

In Kasachstan regierte mehr als zwei Jahrzehnte lang ein Präsident mit unverhohlen autokratischen Neigungen – Nursultan Nasarbajew. Der langjährige Führer der Nation war zu Sowjetzeiten Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei. Doch die internationale Kritik hielt sich in Grenzen, denn Kasachstan ist dank üppiger Öl- und Gasvorkommen das reichste Land der Region. Es konnte sich sogar eine neue Hauptstadt leisten, benannt nach dem einstigen Präsidenten: Nur-Sultan.

Anders als Kasachstan konnten die ehemaligen armen Sowjetrepubliken Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan und Tadschikistan mit der neuen Freiheit in den ersten Jahren nur wenig anfangen. Sie galten als die Armenhäuser der UdSSR und dementsprechend groß war die Abhängigkeit von der Zentralmacht in Moskau. Heute orientieren sie sich eher in Richtung China und sehen große Chancen in dem gigantischen chinesischen Infrastruktur-Projekt "Neue Seidenstraße", das den Orient wieder mit dem Westen verbinden soll.

Russland, das sich nach Jahren des Desinteresses wieder Zentralasien zugewandt hat, um sich seine traditionelle Einflusssphäre zu sichern, beteiligt sich an dem interkontinentalen Projekt. Die zentralasiatischen Republiken ihrerseits sehen das nicht ungern, auch um ein Gegengewicht zum übergroßen Nachbarn China zu haben. "China betreibt gegenüber Russland eine sehr vorsichtige Politik in dem Sinne, dass es Russland nicht spüren lässt, dass es zumindest im wirtschaftlichen und finanziellen Sektor der Juniorpartner Chinas ist", sagt Gerhard Mangott. "Es ist eine historisch gewachsene Angst Chinas, dass Russland als Swing State sich an die Seite des Westens gegen China stellt. Und das möchte man unbedingt verhindern."

Millionen Menschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens sind seit Jahrzehnten in Russland als Wanderarbeiter beschäftigt, die meisten von ihnen stammen aus Kirgistan. Vor allem in den Großstädten Moskau und St. Petersburg schuften sie auf Baustellen und im Dienstleistungsgewerbe. Menschen aus dem Kaukasus sind auch als Händler in Russland unterwegs. Ihr Lohn ist für die Familien daheim oft die wichtigste Einnahmequelle. In Russland werden sie als sogenannte "Schwarze" beschimpft und oft diskriminiert.

Die Staaten Zentralasiens liegen tausende Kilometer von Moskau entfernt. Dennoch schaut der Kreml sehr aufmerksam auf die Gebirge und Steppen dieses Gebietes. Denn nicht weit weg von Kirgistan befindet sich ein für Russland höchst gefährlicher Krisenherd – Afghanistan. "Aus russischer Sicht sind diese zentralasiatischen Staaten die weiche Südflanke, also die leicht unterwanderbare, destabilisierbare Südflanke Russlands", erklärt Gerhard Mangott. "Und da diese Staaten einen visafreien Grenzverkehr mit Russland haben, ist ein Einsickern von Islamisten in die zentralasiatischen Staaten gewissermaßen die offene Tür für das Einsickern auch nach Russland."

Wegen der islamistischen Terror-Bedrohung ist ein von Russland geführtes Militärbündnis in der Region wieder aktiv geworden. Neben Russland und Belarus gehören diesem Bündnis Tadschikistan, Armenien, Kasachstan und Kirgistan an. Im Herbst 2021 fanden große Manöver in Tadschikistan statt. Russlands Einfluss in Zentralasien nimmt insofern wieder gewaltig zu.

Russlands neue Rolle

Eine Demokratie nach westeuropäischen Vorstellungen hat in Russland, anders als von vielen erhofft, bislang nicht Einzug gehalten. Wladimir Putin absolviert mittlerweile seine vierte Amtszeit als Präsident. Das riesige Russland beansprucht heute ganz selbstverständlich den Platz der einstigen Sowjetunion und ist doch isolierter, als es noch vor drei Jahrzehnten möglich schien. "Russland ist zwar wieder als Machtfaktor in der internationalen Politik anerkannt", meint Gerhard Mangott, "aber doch weit hinter dem zurückgeblieben, wo es mit einer klugen Führung sein könnte." Ob die derzeitige Drohkulisse an der Grenze zur Ukraine das geeignete Mittel ist, Russland "Ehre und Ruhm" zu bringen, darf bezweifelt werden.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 30. Januar 2022 | 22:00 Uhr