Estland Reisen gegen die Vorurteile

23. April 2019, 10:11 Uhr

Marina Hammerbeck lebt in Tallinn. Mit zwei Jobs kommt sie über die Runden, sie ist zufrieden. Dass Estland in der EU ist, hat sie vor allem für Reisen genutzt. Sie weiß, noch ist nicht alles gut im digitalen Musterland.

Marina Hammerbeck hat ihren Schreibtisch im Souterrain eines Hauses am Rande der Innenstadt von Tallinn. Die Adresse lautet "Vana-Kalamaja 31-7". Es sind zwei große Räume, einer davon als Andachtsraum gestaltet, im anderen steht ein großer Tisch mit vielen Stühlen, umgeben von Regalen mit Büchern.

Es ist das Zentrum der kleinen lutherischen Erlösergemeinde und die 48-jährige Marina ist ihr guter Geist. Die Frau, die sich um alles und um alle kümmert, die Gemeindeschwester. Nebenbei betreibt die zweifache Mutter aber auch noch eine kleine Änderungsschneiderei. Die Gehälter in Estland sind bescheiden, oft reicht eines nicht aus – obwohl das Land doch als europäisches Erfolgsmodell gilt mit seinen Startups und der umfassenden Digitalisierung. Aber die Vergangenheit ist immer noch spürbar: Sowjetarchitektur, selbst Repräsentations-, oder besser Repressionsbauten aus der Stalinzeit, stehen noch und sind denkmalgeschützt.

Jeder vierte Este hat russische Wurzeln

Etwa ein Viertel der knapp 1,3 Millionen Bewohner hat russische Wurzeln, so wie Marina, die aber auch ganz gut Deutsch spricht. Ihre Eltern sind in der Sowjetzeit nach Estland gekommen, Papa war beim Militär, sie aber ist in Tallinn geboren und fühlt sich als Estin. Sie kennt aber viele, bei denen das nicht so eindeutig ist …

Ich glaube, es gibt Probleme zwischen russischen Menschen und Europa überhaupt. Wie kann ich zum Beispiel in Zeitungen hier lesen: 'Europa hat immer Angst vor Russland'. Das ist nicht meine Meinung. Wir sind so viel gereist in Europa, ja. Und das stimmt so nicht.

Marina Hammerbeck (Auf Deutsch im Original)

Ein guter erster Schritt

Vorurteile seien das, sagt sie - und hat selbst das Beste dagegen getan. Sie hat die Freiheit genutzt, die ihr die Unabhängigkeit des Landes und seine EU-Mitgliedschaft bieten, und sich dieses Europa angeschaut.

Für Marina und ihre Familie ist diese Freiheit ein ganz zentraler Punkt, der die positive Einstellung zur EU prägt:

Meine Kreise ja, wir sind zufrieden. Wir sind in Europa, wir gehören zu Europa, wir können uns frei bewegen und reisen. Und ich glaube, das ist ein guter Schritt.

Marina Hammerbeck

Noch ist nicht alles geschafft

Allerdings gibt es in ihren Augen auch weniger gute Dinge. Estlands Image als EU-Musterknabe mit großer digitaler Zukunft stimme nur zum Teil. Das Sozialsystem zum Beispiel gilt mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Sowjetherrschaft immer noch als, sagen wir, ausbaufähig. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit auseinander:

Wir gehen auf 27 Jahre zu. Das ist auf der einen Seite viel Zeit, auf der anderen Seite ist noch nicht alles fertig gemacht, so, wie die Leute sich das damals gedacht haben.

Marina Hammerbeck

Die hatten sich damals auch gedacht, dass sie den wirtschaftlichen Anschluss an Europa schneller schaffen würden. Viele Esten warten bis heute darauf, sie leben im europäischen Vergleich weiter sehr bescheiden und haben Mühe, über die Runden zu kommen. Das Gehalt könnte besser sein, meint auch Marina. Viele hätten Kredite, die sie abzahlen müssten. Und das sei eben viel zu schwer, "wenn das Gehalt bei plus minus 1.000 Euro liegt".

Frust auf EU stärkt nationalistische Partei

Sowas schafft Frust. Und den haben viele der Esten bei den Parlamentswahlen im März rausgelassen: Fast 18 Prozent für die rechtsnationalistische und europaskeptische Partei EKRE. (*) Die bezeichnet die EU als totalitäres System und vergleicht sie mit der Sowjetunion. Und selbst Marina, die so viel von Europa hält, widerspricht dem nicht hundertprozentig.

Unsere Regierung macht auch alles mit Brüssel, alles zusammen, ja? Alles von Brüssel, ja? Und da ist noch nicht alles gut und perfekt und sehr schön, noch nicht!

Marina Hammerbeck

(*) Das Interview wurde vor der Entscheidung geführt, EKRE an der Regierung in Estland zu beteiligen.

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