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Kampf um die HauptstadtRussische Truppen rücken auf Kiew vor – Verwirrung um Gespräche

26. Februar 2022, 02:15 Uhr

Die Lage in der Ukraine spitzt sich zu. Russische Truppen sind in die Außenbezirke der Hauptstadt Kiew vorgedrungen. Die Ukraine bot noch einmal Verhandlungen an. Russland reagierte widersprüchlich. International wurden zahlreiche Sanktionen in Kraft gesetzt.

von MDR AKTUELL

Russland hat seinen Truppenvormarsch auch am Freitag fortgesetzt. Aus den nördlichen Außenbezirken der ukrainischen Hauptstadt Kiew wurden bereits am Morgen erste Gefechte gemeldet. Videos zeigten Panzer in einem nördlichen Außenbezirk.

Das ukrainische Verteidigungsministerium schrieb bei Facebook, russische "Saboteure" hielten sich im Bezirk Obolon im Norden Kiews auf. Solche Angaben lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen. Auch sonst gibt es kaum Berichterstattung von unabhängigen Medien aus dem Kriegsgebiet.

Nach Angaben eines Beraters des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj strebt Russland die Einnahme von Kiew an. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko wandte sich am Freitagabend an die Einwohner der Hauptstadt und warnte vor einer schwierigen Nacht. Klitschko schrieb im Nachrichtenkanal Telegram, die Situation sei bedrohlich. Russische Truppen seien in der Nähe der Millionenmetropole. Man habe die Brücken gesichert und Checkpoints eingerichtet. Klitschko zufolge gab es am Abend mehrere Explosionen.

Mehrere Agenturen berichteten, Russland habe die Kontrolle über einen Flugplatz in der Nähe von Kiew erlangt. Dort seien Fallschirmjäger gelandet.

Russische Truppen überschreiten den Dnipro

Im Süden der Ukraine überschritten russische Truppen den Fluss Dnipro (Dnjepr). Die Gebietsverwaltung der Stadt Cherson teilte mit, die russischen Verbände hätten damit Zugang zu der strategisch wichtigen Stadt. Man unternehme alles, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und Leben zu retten.

Cherson hat 300.000 Einwohner und spielt eine wichtige Rolle beim Schutz der Hafenstadt Odessa. Auch aus anderen Teilen der Ukraine wurden heftige Kämpfe gemeldet. So berichtete der ukrainische Generalstab, in Iwankiw rund 80 Kilometer nordwestlich der ukrainischen Hauptstadt hätten sich Fallschirmjäger einer "überwältigenden" Anzahl russischer Truppen entgegengestellt, die mit gepanzerten Fahrzeugen vorrückten. Eine Brücke sei zerstört worden.

Unterschiedliche Angaben zu Toten und Verlusten

Insgesamt ist die Lage in den Kampfgebeiten unübersichtlich – und kann kaum unabhängig überprüft werden. Die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar erklärte am Freitag auf ihrer Facebook-Seite, die russischen Streitkräfte hätten etwa 2.800 Soldaten und 80 Panzer verloren. Zudem habe Russland bis zum Nachmittag etwa 516 gepanzerte Kampffahrzeuge, zehn Flugzeuge und sieben Hubschrauber verloren.

Russland zerstörte nach eigenen Angaben 118 ukrainische Militärstandorte. Diese Angaben waren von unabhängiger Seite nicht zu bestätigen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte in der Nacht zum Freitag gesagt, dass bei den Kämpfen bis dahin 137 Militärangehörige und Zivilisten getötet und Hunderte von Menschen verletzt worden seien. Das UN-Menschenrechtsbüro erklärte, es gebe Berichte über mindestens 127 zivile Opfer in der Ukraine, davon 25 Tote und 102 Verletzte. Die eigentliche Zahl dürfte aber weitaus höher liegen.

Russland erobert Atomruine Tschernobyl

Bestätigt wurde wiederum von Russland die Eroberung des ehemaligen Atomkraftwerkes Tschernobyl, das knapp 70 Kilometer von Kiew entfernt liegt. Fallschirmjäger würden jetzt nach Tschernobyl gebracht, um das Atomkraftwerk zu bewachen. Der ukrainischen Atombehörde zufolge war die Strahlung am stillgelegten Atomkraftwerk Tschernobyl erhöht.

In der Nacht zu Donnerstag hatte Russland den großangelegten Angriff auf die Ukraine begonnen. Die Anführer der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donzek hatten Russlands Präsident Wladimir Putin zuvor um Hilfe gebeten. Begründet wurde das mit angeblichen Angriffen der ukrainischen Armee. Putin warnte den Westen vor einer Einmischung in den Konflikt.

Verhandlungsangebot und widersprüchliche Reaktionen

Am Freitag gab es Hoffnungen auf direkte Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Der ukrainische Präsident hatte sich offen für Verhandlungen über einen neutralen Status der Ukraine gezeigt. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sprach zunächst von einem Schritt in die richtige Richtung.

Kurz danach rief Russlands Präsident Putin allerdings die ukrainische Armee auf, Selenskyj zu stürzen. Putin bezeichnete dessen Regierung dabei als "Drogenabhängige" und "Nazisten". Außenminister Lawrow nannte als Bedingung für Gespräche wiederum, dass sich die Armee ergebe.

Später hieß es aus dem Kreml, man habe der Ukraine Gespräche in der belarussischen Hauptstadt Minsk angeboten, doch die Regierung in Kiew habe dann Gespräche im polnischen Warschau vorgeschlagen.

Nato verstärkt Truppen in Osteuropa - Bundeswehr bietet Nato Soldaten an

Die Nato kündigte eine Verstärkung ihrer Truppen in Osteuropa an. In einer Abschlusserklärung nach einem virtuellen Treffen der 30 Staats- und Regierungschefs hieß es, es würden in bedeutendem Umfang zusätzliche Kräfte dorthin verlegt. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, dazu gehöre die Entsendung von Tausenden Soldaten und von über 100 Kampfjets, die an 30 Orten in höchste Alarmbereitschaft versetzt würden: "Wir setzen zum ersten Mal die Eingreiftruppe im Rahmen der kollektiven Verteidigung ein, um Ausschreitungen auf dem Territorium des Bündnisses zu verhindern." Der Eingreiftruppe NRF stehen insgesamt rund 50.000 Soldatinnen und Soldaten zur Verfügung.

Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht kündigte die Stationierung einer Bundeswehr-Kompanie in der Slowakei an. Diese werde "zügig in Gang gesetzt", sagte Lambrecht am Freitagabend in einer ZDF-Sondersendung zum Krieg in der Ukraine. Deutschland werde sich so bei der Aufstellung einer Battlegroup und auch bei der Luftverteidigung engagieren.

Sanktionen gegen Lawrow und Putin - Kein Ausschluss von Swift

Um Druck auf Russland auszuüben, traten in der Nacht auf Samstag die neuen EU-Sanktionen in Kraft. Das geht aus Rechtsakten hervor, die im EU-Amtsblatt veröffentlichten wurden. Die Strafmaßnahmen zielen darauf ab, Russland und seiner Wirtschaft erheblichen Schaden zuzufügen. Dafür werden zum Beispiel die Refinanzierungsmöglichkeiten des Staates und von ausgewählten privaten Banken und Unternehmen eingeschränkt. Zudem erlässt die EU Ausfuhrbeschränkungen für strategisch wichtige Güter, die insbesondere Unternehmen aus dem Verkehrs- und Energiesektor treffen sollen.

Darüber hinaus setzt die EU auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinen Außenminister Sergej Lawrow auf ihre Sanktionsliste. Möglicherweise in der EU vorhandene Vermögen der beiden Politiker können so eingefroren werden. Unklar blieb zunächst allerdings, ob Putin und Lawrow überhaupt Vermögen in der EU haben, das eingefroren werden könnte. Wenn nicht, wären die Maßnahmen allein symbolischer Natur. Auch die USA, Kanada und Großbritannien verhängten Sanktionen gegen Putin und Lawrow.

Auf einen Ausschluss Russlands aus dem Finanzsystem Swift konnten sich die EU-Minister wie erwartet nicht einigen. Mehrere Länder, darunter Deutschland, lehnen das ab. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verteidigte am Freitagmorgen die deutsche Haltung.

Durch die Blockade russischer Banken sei der Geschäftsverkehr mit Russland "nahezu beendet", sagte Lindner. "Im Einzelfall sind Transaktionen noch möglich, beispielsweise, um Gaslieferungen zu bezahlen, (...) damit deutsche Unternehmen Überweisungen an ihre eigenen Tochterunternehmen in Russland vornehmen können."

Der Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem sei aber eine Option, die auf dem Tisch liege. "Weitere Schritte sind möglich, müssen aber in ihren Auswirkungen bedacht werden", sagte Lindner. Es gehe in erster Linie darum, die russische Wirtschaft mit Konsequenzen zu belegen.

Europarat suspendiert Russland

Der Europarat suspendierte Russland unterdessen. Wie der Europarat a mitteilte, wird die Teilnahme russischer Diplomaten und Delegierter an den wichtigsten Gremien der europäischen Organisation wegen des "bewaffneten Angriffs" auf die Ukraine "mit sofortiger Wirkung" ausgesetzt. Diese Entscheidung betrifft demnach aber nicht den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, damit dieser weiterhin von russischen Staatsbürgern angerufen werden kann.

apf,dpa,reuters(luc)

Dieses Thema im Programm:25. Februar 2022 | 10:30 Uhr