Ein Mann steht vor einem Fenster, in dem eine Regenbogenfahne hängt
Ein Warschauer Interventionshostel rettete einst sein Leben. Bildrechte: MDR/Olivia Kortas

Polen, 12. März 2019 LGBT-Charta sorgt für Entrüstung

12. März 2019, 17:11 Uhr

Seit zwei Wochen streitet Polen darüber, ob sexuelle Minderheiten unterstützt werden dürfen. Der Warschauer Bürgermeister hat ein Dokument unterschrieben, das mehr Aufklärung an Schulen und ein Interventionshostel verspricht. Die Regierungspartei reagierte heftig: Durch solche Zusprüche werde die traditionelle Familie gefährdet. Doch zumindest das Hostel ist in Warschau nichts Neues.

Janusz Banicki* erwartet, dass ihn die Adresse auf dem Zettel zu einer Sozialwohnung am Rande Warschaus führt. Er stellt sich einen grauen Block vor, mit Gittern vor den Fenstern und absplitternder Wandfarbe. Doch als er vor dem Haus steht, in dem er bald ein neues Leben aufbauen wird, ist er überrascht: Es erinnert ihn an die britischen Wohnhäuser aus seinen Lieblingsserien. Er durchquert den Garten und läutet. Ein Sozialarbeiter öffnet die Tür. Banicki erlebt, was er später einen "positiven Schock" nennt. Er habe verstanden, dass seine Homosexualität hier akzeptiert wird, so erzählt es mir Banicki, als ich ihn vor drei Jahren das erste Mal getroffen habe. Heute geht er sogar noch weiter: Das Warschauer Interventionshostel habe ihm damals das Leben gerettet, so der 27-Jährige.

Streit über Umgang mit sexuellen Minderheiten

In seinem Heimatland Polen ist die Situation sexuelle Minderheiten schwierig - zumindest im Vergleich mit anderen europäischen Ländern. Im jüngsten Rating der ILGA, einem Dachverband für europäische LGBT-Organisationen, landet Polen auf Platz 38 von 49. Unter den EU-Ländern schneidet nur Lettland schlechter ab. Das Rating vergleicht Gesetze und politische Leitlinien, die das Leben der LGBT beeinflussen.

LGBT steht als Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle und Transgender-Personen. Daneben existieren diverse Bezeichnungen, wie LGBT+, die unter anderem in der Warschauer Charta benutzt wird und Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen oder geschlechtlichen Identitäten einbeziehen soll. Das Plus steht somit auch für queere, intersexuelle und asexuelle Menschen.

In diesen Tagen dominiert das Thema die polnische Berichterstattung. Politiker der nationalkonservativen Regierungspartei PiS fordern, Zugeständnisse an LGBT aufzuhalten. Die traditionelle Familie müsse geschützt werden.

Der Auslöser für die landesweite Debatte war eine Unterschrift: Warschaus liberaler Bürgermeister Rafał Trzaskowski signierte die sogenannte "LGBT+ Charta", ein Dokument, das Menschen wie Janusz Banicki unterstützen soll, rechtlich aber nicht bindend ist. Außerdem sollen Kinder in den Schulen mehr über sexuelle Orientierung lernen, auch ein LGBT-Interventionshostel ist geplant. Ein Hostel, wie das, in dem Banicki im Sommer 2016 Hilfe gefunden hat.

Interventionshostel als Rettung

"Achtung, Jungs, versteckt eure Ärsche! Der Schwuchtel kommt!", riefen die Jugendlichen, als Banicki als 15-Jähriger ein Schulgebäude in seiner Heimatstadt nahe Kattowitz im Süden Polens betreten hat. Sie drückten ihre Rücken gegen die Wände und lachten, während Banicki den Gang entlangrannte. Heute knetet der glatzköpfige Mann mit dem rotem Bart und den scheuen Augen seine Hände, wenn er sich an die Szene erinnert. "Schon im Kindergarten habe ich herausgefunden, dass mir Jungs besser gefallen als Mädchen", sagt er und ergänzt: "Damals hatte ich es gut. Ich wusste nicht, dass ein spezielles Wort dafür existiert: schwul."

Das änderte sich bald. In der Schule beleidigten ihn seine Mitschüler als Schwuchtel, sie schlugen ihn, sogar sein bester Freund. Mit 16 sei es am schlimmsten gewesen, erzählt Banicki, ein Polizist habe ihn jeden Tag auf dem Schulweg begleitet. "Aber vor der Gewalt innerhalb des Gebäudes schützte er mich nicht", sagt er. Und die Eltern? "Die haben das Thema verdrängt." Kurz nach seinem 18. Geburtstag zog Banicki von Stadt zu Stadt, von Job zu Job: Parkhauswächter in Kattowitz, Psychologiestudent in Krakau, Kabelträger beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Warschau. Am Schluss landete er auf der Straße, arbeitslos und depressiv. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Bis eine Bekannte ihm vom Interventionshostel erzählte.

Angriffe rechter Gruppierungen

Die polnischen LGBT sind gut organisiert. In der Hauptstadt setzen sich zwei NGOs für ihre Rechte ein. Als ich Banicki 2016 zum ersten Mal im Büro der Organisationen Lambda Warszawa treffe, sind fast drei Monate vergangen, seit ein Sozialarbeiter ihm die Tür des geheimen Interventionshostels geöffnet hat. Keine andere Person als die Bewohner und die Mitarbeiter kennen seine Adresse. "Wir fürchten uns vor Angriffen rechter Gruppierungen", sagt damals Agnieszka Duszyńska, die das Hotel vermittelt und koordiniert. "Es soll eine sichere Zone für Menschen bleiben, die physische oder psychologische Gewalt erfahren haben."

Menschen demonstrieren
Proteste für ein Recht auf Gleichstellung in der polnischen Gesellschaft, Herbst 2018. Bildrechte: imago/ZUMA Press

Im Sommer 2016 sind die polnischen Aktivisten nervös. Eine Regenbogenflagge bedeckt damals das große Fenster hinter Banickis Rücken. Bis vor kurzem hing die Flagge draußen, gut sichtbar für jeden. Dann warf jemand Steine durch das Bürofenster und die Organisation holte die Flagge ins Gebäude. Die NGO berichtet über einen Anstieg der Gewalttaten gegen LGBT und erwartet, dass sich die Situation weiter verschlechtert. Für sie ist klar, wer die Verantwortung trägt: die neu gewählte Regierung. Im Herbst 2015 gewann PiS die Wahl. "Die Regierung genehmigt Homophobie stillschweigend", sagt Hostel-Managerin Duszyńska.

Toleranz ja, aber...

Es ist offensichtlich, dass PiS die LGBT nicht unterstützt. Im Jahr 2015 sagte der Parteichef Jarosław Kaczyński zum Thema Geschlechtervielfalt: "Es gibt Normen und Abweichungen von Normen. Ja zur Toleranz, nein zur Zustimmung". Er fügte hinzu: "Um uns zu entwickeln, müssen wir nicht die westlichen Normen übernehmen." Der Ton hat sich nach vier Jahren an der Regierung nicht verändert. Die Unterschrift Trzaskowskis unter der Charta kommentierte Kaczyński bei der PiS-Konvention am vergangenen Samstag so: "Der ganze Mechanismus, der unsere Kinder darauf vorbereitet, Mütter und Väter zu werden, soll zerstört werden. (…) Wir werden die polnische Familie auch in diesen Wahlen schützen".

Damit spricht Kaczyński aus, was die Kommentatoren in den Tagen zuvor vermutet haben: PiS nutzt das Thema für den Wahlkampf. Im Mai findet die Europawahl statt und im Herbst die Parlamentswahl. Mit Hetze gegen Flüchtlinge lassen sich keine Stimmen mehr holen. Doch indem die Partei die traditionelle Familie gegen LGBT stellt, schafft sie eine neue Bedrohung und trennt zwischen "uns" und "denen". Der Kanzleramtschef des Premierministers sieht das anders. Er kommentierte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die Opposition zettele mit der Charta einen ideologischen Krieg an, weil sie für die Wahl keine Inhalte liefern könne.

Frauen stehen nebeneinander
Proteste in Warschau im Januar 2019 gegen Gender-Bildung in Schulen. Bildrechte: imago/ZUMA Press

Kirche: Geschlechterdebatte gefährde polnische Identität

Doch nicht nur die Regierungspartei unterscheidet zwischen "der Norm" und LGBT. Die katholische Kirche spielt in der Debatte eine wichtige Rolle. Vor vollen Kirchenbänken erklären Priester, dass jede Form der Geschlechterdebatte die polnische Identität gefährde. Das beeinflusst die polnische Gesellschaft: Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes CBOS von 2017 denkt einer von vier Polen, homosexuelle Beziehungen seien moralisch inakzeptabel. Mehr als die Hälfte der Polen sehe Homosexualität als Anomalie, die tolerierbar sei.

Weniger körperliche Gewalt gegenüber Homosexuellen

Janusz Banicki widerspricht den Aktivisten von Lambda Warszawa. "Ich denke nicht, dass sich unsere Situation durch die PiS-Regierung verschlechtert hat", sagt er, "ich begegne heute weniger Gewalt als in den 1990ern." Allerdings würde er auch heute niemals Hand in Hand mit einem Mann durch die Warschauer Straßen laufen. Mariusz Kurc, Chefredakteur des LGBT-Magazins Replika, bestätigt Banickis Erfahrung: "Wenn Homosexuelle ihre Liebe offener zeigen würden, gäbe es mehr Gewalt", sagt er. Trotzdem habe er beobachtet, wie sein Land toleranter geworden sei. "2013 habe ich ein schwules Paar interviewt, das vier Wochen lang Hand in Hand durch die Straßen Warschaus gelaufen war", sagt er, "zwei Mal wurden sie angespuckt und sieben Mal beleidigt." Das Paar habe das Experiment als Erfolg gewertet: Es hätte erwartet, geschlagen zu werden.

"Unsere Klienten sind vor allem Opfer psychologischer Gewalt", sagt Magda Tuska. Sie ist 2016 eine von vier Mitarbeiterinnen im Interventionshostel und ausgebildete Psychologin. Der typische Bewohner des Hostels sei ein junger, schwuler Mann zwischen 18 und 30. Die Regeln sind einfach: Nach einem Vorstellungsgespräch darf die Person in das Hostel ziehen. Sie zahlt keine Miete und darf drei Monate lang bleiben. Sie muss mit den Psychologen des Hostels regelmäßig über die persönliche Entwicklung sprechen und sich Ziele setzen. "Die Klienten müssen lernen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, stolz und unabhängig zu sein", sagt Tuska damals.

Leben im Hostel

2016 zeigt mir Banicki Fotos vom Hostel: In die Küche fällt durch große Fenstertüren Sonnenlicht, dahinter sieht man den Garten. "Alles riecht neu und sauber", sagt er. Er teilt sich einen Raum mit einem anderen Mann im zweiten Stockwerk. Die Möblierung ist einfach: Standard-Betten und Regale von Ikea. Es gibt ein Wohnzimmer mit einem Fernseher. Die Bewohner treffen sich dort zwei Mal wöchentlich für Gruppendiskussionen. "Jeder im Hostel kennt die Geschichten der anderen", sagt Banicki, "aber im echten Leben weiß nur eine Person, dass ich hier wohne."

Zusammen mit Banicki wohnen damals neun Männer im Hostel. Die Hälfte kommt aus Warschau, die anderen kommen aus Polens ländlichen Regionen, aus der Ukraine, aus Russland. Von hier aus suchen sie nach einem Job, nach einer Wohnung und nach Freunden. "Wir wollen, dass die Klienten normal zur Arbeit gehen", sagt Tuska. Auch Banicki hat nach zwei Monaten im Hostel einen Job gefunden, als Kassierer in einem Spielzeuggeschäft. Bald wolle er ausziehen. "Ich habe hier zu lange gewohnt, ich will beweisen, dass ich jetzt für mich selbst sorgen kann", sagt er, "dass ich hierher gekommen bin, nicht um zu bleiben, sondern um ein neues Leben zu beginnen."

Heute, drei Jahre später, schreibe ich wieder mit Banicki. Das Interventionshostel existiert nicht mehr, die NGO hatte nicht genug finanzielle Mittel, um es zu erhalten. Banicki findet es richtig, dass der Warschauer Bürgermeister ein neues Interventionshostel öffnen lassen möchte. Er selbst lebt mittlerweile in Prag. Er schickt ein Selfie mit seinem Partner und ihren zwei Hunden. "Ich habe wirklich ein gutes Leben hier", schreibt er, "dank des Hostels bin ich nicht völlig am Boden gelandet, ich war auf dem guten Weg dorthin."

*Name von der Redaktion geändert.

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im Fernsehen: 29.06.2018 | 17:45 Uhr

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