Russland-Ukraine-Krieg Nord Stream 2 – Was folgt aus Deutschlands gescheiterter Osteuropa-Politik?

21. Februar 2023, 08:57 Uhr

Die Erdgasleitung Nord Stream 2 sollte zum Vorzeigeprojekt des Konzepts "Wandel durch Annäherung" werden. Wenn man mit Russland Handel treibe, so glaubte man in Berlin, würde Moskau auf Aggressionen verzichten. Ein Irrtum, wie spätestens Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt. Die Ostsee-Pipeline steht für diese gescheiterte deutsche Osteuropa-Politik. Verliert Deutschland an Einfluss zugunsten von Osteuropa?

Nord Stream 2, ein Gemeinschaftsprojekt des russischen Staatskonzerns Gazprom und fünf europäischer Energiekonzerne, ist jetzt eine gigantische Investitionsruine auf dem Grund der Ostsee. Die Gaspipeline besteht aus 200.000 Rohren, jedes davon 24 Tonnen schwer. Sie führt über 1.200 Kilometer vom russischen Ust-Luga nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern. Ein Jahr nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine glaubt kaum noch einer daran, dass jemals russisches Gas durch die Pipeline fließen wird.

Als im Frühjahr 2015 die ersten Verträge zum Bau von Nord Stream 2 unterzeichnet wurden, war die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim gerade einmal ein Jahr her. Für die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) war das kein Grund, das Vorhaben in Zweifel zu ziehen. Von einem rein privatwirtschaftlichen Projekt war die Rede, das zudem noch die europäische Energiesicherheit stärken würde.

"Germany First"

Eine Sicht, die in der EU bei Weitem nicht alle teilten, insbesondere viele osteuropäische Mitglieder. "Nord Stream 2 hatte nie die Unterstützung im Europäischen Parlament. Die Kommission hat vor dem Projekt gewarnt. Dass es von Berlin trotzdem mit aller Gewalt durchgeboxt werden sollte, das war eine 'Germany first'-Politik. Europäisch und solidarisch war das nie", konstatiert Reinhard Bütikofer, seit 2009 Abgeordneter des EU-Parlaments von Bündnis90/Die Grünen und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Deutschland habe bei seiner Energiepolitik an den Sicherheitsinteressen osteuropäischer Nachbarn und der Ukraine vorbei entschieden.

Die EU-Kommission hat vor dem Projekt gewarnt. Dass es von Berlin trotzdem mit aller Gewalt durchgeboxt werden sollte, das war eine 'Germany first'-Politik. Europäisch und solidarisch war das nie.

Reinhard Bütikofer, Abgeordneter des EU-Parlaments, Bündnis90/Die Grünen

Über die Ukraine brachten Transitpipelines, die noch aus den Zeiten der Sowjetunion stammen, russisches Gas in den Westen. Jahrzehnte lang war das der einzige Weg. Mit der Nord Stream 1 und der Nord Stream 2 sollte das einstige Bruderland Ukraine, das zunehmend zum widerspenstigen Nachbarn wurde, umgangen werden, so der Kremlplan. In der Ukraine befürchtete man, durch die Ostsee-Pipeline nicht nur von Transit- und damit wichtigen Staatseinnahmen abgeschnitten zu werden. In Kiew hatte man vor allem darauf gesetzt, durch den Gastransit vor russischen Angriffen geschützt zu sein.

Deutschland – Gazproms bester Kunde

Doch in Fragen von Gaslieferungen war die deutsche Politik von knallharten Geschäftsinteressen getrieben. Der Hunger der deutschen Industrie nach billiger Energie aus Russland war unersättlich – war sie doch die Grundlage für das wirtschaftliche Wachstum, den Wohlstand und die politische Vormachtstellung in Europa. Jahrzehntelang war Deutschland Gazproms bester Kunde. Im Winter 2022 lag der Anteil der russischen Gaslieferungen in die Bundesrepublik bei über 55 Prozent. Dass damit auch im entscheidenden Maße Putins geopolitische Ambitionen finanziert wurden, haben die verantwortlichen Politiker dabei erfolgreich verdrängt.

Der Staatskonzern Gazprom
Der russische Staatskonzern Gazprom, der hinter Nord Stream 2 steht, investierte einen Großteil der über zehn Milliarden Euro Gesamtkosten in die Ostsee-Pipeline. Bildrechte: © MDR/Schulz & Wendelmann, honorarfrei

Reinhard Bütikofer erinnert sich an eine Begegnung mit Managern des größten Chemiekonzern des Landes: "Man kann das schon sagen, dass die Gier nach billigem Gas da ganz ausschlaggebend war. Ich habe einmal mit Leuten der BASF gesprochen, als sie einmal Gasinfrastruktur an Gazprom verkauft haben, und habe ich sie gefragt, ob sie da nicht ein Risiko sehen? Da wurde mir gesagt, nein, da sei kein Risiko. Die Bereitschaft, genau hinzuschauen und zu analysieren, war völlig unterentwickelt, weil alle eine Brille mit Eurozeichen darauf aufhatten."

Allen Warnungen zum Trotz

Aus Osteuropa, vor allem aus Polen, waren von Anfang an sicherheitspolitische Warnungen im Zusammenhang mit dem Pipelinebau zu hören. Gerade vor dem Hintergrund einer immer aggressiveren Rhetorik des Kreml. "Wir wussten, sobald der Imperialismus in Russland wieder aufersteht, wird er angreifen", sagt Witold Waszczykowski, ehemaliger polnischer Außenminister und heutiger Abgeordneter des EU-Parlaments. "Wir wussten es schon mit dem Angriff auf Tschetschenien. Wir sahen es mit dem Angriff auf Georgien und danach auf der Krim. Der polnische Präsident Lech Kaczyński sagte 2008 in Tbilissi, dass nach Georgien die Ukraine dran sei und dann die baltischen Staaten und dann Polen. Dieses Szenario haben wir zurzeit." Doch die Deutschen hätten alle Warnungen in den Wind geschlagen, so Waszczykowski weiter. Sie hätten geglaubt, dass eine engere Zusammenarbeit das zunehmend totalitäre Russland stärker an Europa und dessen Werte binden werde. 

Wir wussten, sobald der Imperialismus in Russland wieder aufersteht, wird er angreifen.

Witold Waszczykowski, ehemaliger polnischer Außenminister

Das Konzept dahinter – Wandel durch Annäherung – entstand unter dem sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt in den 1970er Jahren. Damals hat sich die SPD dafür eingesetzt, die Konfrontation der Systeme durch wirtschaftliche Beziehungen zu entschärfen. Der Bau der ersten Pipeline von Sibirien nach Westeuropa sowie die Geschäfte mit dem Erdgas wurden zum Zugpferd dieses Konzepts und galten über Jahrzehnte als dessen praktischer Beweis. Dass die Devisen aber auch eine massive Unterstützung für das kommunistische Regime waren, wollte in Berlin auch damals schon keiner sehen.

Historische Arroganz gegenüber Osteuropa

Der deutsch-polnische Historiker Bogdan Musiał hat als Bergmann Anfang der 1980er Jahre an den Streiks der polnischen Solidarność-Bewegung teilgenommen. Als diese verboten und Musiał vom polnischen Sicherheitsdienst verfolgt wurde, floh er 1985 nach Westdeutschland. Das Konzept "Wandel durch Annäherung" sieht Musiał sowohl aus persönlicher als auch aus historischer Perspektive kritisch. "Wir haben uns damals schon verraten gefühlt. Denn durch diese Kontakte wurden die kommunistischen verbrecherischen Regime stabilisiert. Ohne die Erdgaslieferungen und die Einnahmen daraus wäre das System viel früher auseinandergefallen oder hätte sich ändern müssen. So aber wurde es außen- wie innenpolitisch am Leben erhalten."

Polen, Ukrainer, Belarussen: Wo sind die in der Sicherheitsdebatte? Wo sind die kleinen baltischen Länder? Die gab es gar nicht. Und auf einmal haben wir einen Krieg. Dabei wurden die Interessen dieser Nationen nie ernst genommen. Im Gegenteil, hier hat man Politik zu ihrem Nachteil gemacht.

Bogdan Musiał, deutsch-polnischer Historiker

Damals sei es eine Politik der Einflusssphären gewesen. Staaten zwischen Berlin und Moskau wurden dem sowjetischen Machtbereich zugerechnet und konnten per se keine eigene Position haben. Diese Arroganz gegenüber osteuropäischen Staaten dauere bis heute an, so Musiał weiter. Deutschland sei einfach noch nicht reif für eine verantwortungsvolle Osteuropa-Politik. "Polen, Ukrainer, Belarussen: Wo sind die in der Sicherheitsdebatte? Wo sind die kleinen baltischen Länder? Die gab es gar nicht. Und auf einmal haben wir einen Krieg. Dabei wurden die Interessen dieser Nationen nie ernst genommen. Im Gegenteil, hier hat man Politik zu ihrem Nachteil gemacht."

"Wir behandeln die USA wie eine europäische Großmacht"

Auch in der aktuellen Energiekrise beweist Deutschland in den Augen vieler europäischer Staaten in Ost und West wieder eine egoistische Haltung. Etwa als Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis90/Die Grünen) sich im Sommer 2022 aufmachten, um Ersatz für fehlendes russisches Gas zu finden – koste es, was es wolle. Oder als Olaf Scholz den 200 Milliarden Euro schweren "Doppelwumms" ankündigte. Ein Hilfspaket, das sich kaum ein anderer Staat in der EU, geschweige denn in Osteuropa, leisten kann.

Insbesondere Polen halte sich in der aktuellen Sicherheits- und Energiekrise deshalb eher an die USA, sagt Polens ehemaliger Außenminister Witold Waszczykowski: "Vielleicht klingt das, was ich sage, frevelhaft als Europäer. Aber wir behandeln die USA wie eine europäische Großmacht. In Sachen Sicherheit haben sie uns oft beigestanden. Im Falle Polens spielt Amerika eine immense Rolle, denn wir importieren immer mehr Gas aus den Vereinigten Staaten. Für uns wird ihre Bedeutung noch größer werden," so Waszczykowski.

Zögernde Haltung vertieft die Zweifel

Die USA haben Osteuropa in seiner Opposition zu Nord Stream 2 früh unterstützt und Deutschland vor sicherheitspolitischen Risiken einer zu großen Energieabhängigkeit von Russland gewarnt – durchaus mit Eigeninteressen. 2019 hat die US-Regierung sogar Sanktionen beschlossen, die eine Fertigstellung verhindern sollten. Nur der vehemente Einsatz der Bundesregierung unter Angela Merkel sowie der SPD-geführten Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern, wo die Pipeline anlandet, konnten deren Greifen verhindern. Eine entschiedene Absage an die fertiggestellte Gasleitung erteilte der neue Bundeskanzler Olaf Scholz erst, als der russische Überfall auf die Ukraine bereits begonnen hatte.

Die aktuelle Koalition der Ukraine-Unterstützer führen offenbar die USA an – ob es nun um Waffen oder um finanzielle Unterstützung geht. Zwar kann sich Deutschland nach der Zusage der Panzerlieferungen rühmen, hier an zweiter Stelle zu stehen, doch scheint keine wirkliche Initiative von der Bundesregierung auszugehen. Kritiker bemängeln, dass jeder Hilfszusage ein langes Zögern vorausgeht, jeweils mit mehr oder minder stichhaltigen Argumenten begründet. Es sei auch diese zaudernde Haltung, die das Misstrauen und den Zweifel in Osteuropa vertiefen würden.

Die europäische Politiklandschaft in Bewegung

Könnte es also sein, dass sich die Machtverhältnisse in Europa verschieben? Könnte Polen etwa mit der Unterstützung der USA ein größeres Gewicht innerhalb der EU bekommen und bei bestimmten Fragen möglicherweise sogar eine Führungsrolle für sich beanspruchen?

Benjamin Schmitt ist ein US-amerikanischer Energieexperte an der Universität Harvard. Von 2015 bis 2019 beriet er die US-Regierung in Fragen europäischer Energiesicherheit. Schmitt sieht bereits Anzeichen für eine Veränderung innerhalb der europäischen politischen Landschaft, die der deutschen Regierung zu denken geben sollten: "Wir sehen diese wachsende Zusammenarbeit von Kiew und Warschau bereits, zwischen den baltischen Staaten und Warschau, zwischen Mittel- und Osteuropa, den Ländern der östlichen Flanke der Nato. Sie bauen im Grunde genommen diese Widerstandsfähigkeit auf und führen Europa in Bezug auf seine Sicherheit gegen eine russische Aggression an. Das ist ein politisches Momentum, in dem sich der Schwerpunkt der Sicherheitspolitik nach Osten verlagern könnte. Es sollte ein Weckruf für Berlin sein."

Führungsstärke auf Augenhöhe

Stefan Meister, Osteuropa- und Russlandexperte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, ist in seiner Einschätzung deutlich vorsichtiger. Trotz eines größeren Gewichts in der aktuellen Krise, fehle es Polen unter der PiS-Regierung an einer eigenen Europapolitik, was eine Führungsrolle auf Dauer unwahrscheinlich mache.

Ich glaube nicht, dass es ohne Deutschland möglich ist, die EU strategisch neu aufzustellen, weil die Länder Osteuropas entweder nicht das Interesse oder auch nicht die Kraft haben, um die EU-Politik gegenüber der östlichen Nachbarschaft zu verändern.

Stefan Meister, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

Es sind laut Meister die großen Fragen der EU jenseits des Ukraine-Kriegs, bei denen Polen wiederum auf Alleingänge setze und ständig aus dem europäischen Konsens ausschere. Sei es die Krise der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sei es der wachsende polnische Nationalismus oder die Verweigerungshaltung in Sachen grüner Transformation der Energieversorgung oder bei der Aufnahme von Flüchtenden. "Ich glaube nicht, dass es ohne Deutschland möglich ist, die EU strategisch neu aufzustellen, weil die Länder Osteuropas entweder nicht das Interesse oder auch nicht die Kraft haben, um die EU-Politik gegenüber der östlichen Nachbarschaft zu verändern", sagt Meister.

Um dieser Aufgabe im Zentrum Europas jedoch gerecht zu werden, wird sich Deutschland wohl neu erfinden müssen. Mit Putins Angriff auf die Ukraine scheint das Konzept des "Wandels durch Annäherung" ebenso gescheitert wie die Nord-Stream-2-Pipeline.

MDR (usc)

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nord Stream 2 - Zerreißprobe für Europa | 19. Februar 2023 | 22:50 Uhr

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