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Wie das Paneuropäische Picknick in Ungarn den Mauerfall einleitete

19. August 2019, 05:00 Uhr

Vor 30 Jahren öffnete Ungarn für ein Volksfest kurzzeitig seine Grenze zu Österreich. 600 DDR-Bürger nutzten das zur Flucht. Plötzlich stand die kleine Stadt Sopron im Zentrum der Weltpolitik.

von Piroska Bakos

"Wir wollten eigentlich nur ein grenzüberschreitendes Fest mit österreichischen und ungarischen Teilnehmern machen. Mit den DDR-Flüchtlingen haben wir gar nicht gerechnet", erinnert sich László Magas, einer der Hauptorganisatoren des Paneuropäischen Picknicks. Er war damals Mitglied des "Ungarischen Demokratischen Forums" (MDF) in Sopron, der ersten oppositionellen Bewegung Ungarns.

Der Eiserne Vorhang bekommt Löcher

1989 fand an diesem Grenzübergang das paneuropäische Picknick statt. Seit 2015 wird die Grenze zwischen Sopron und St. Margarethen wieder durch Grenzwächter bewacht. Bildrechte: MDR/Piroska Bakos

Die Idee des Picknicks stammt allerdings nicht aus Sopron, sondern aus dem ostungarischen Debrecen. "Die dortigen MDF-Leute hatten Oppositionelle aus verschiedenen Ostblock-Ländern nach Ungarn geholt." Für die Abschlussveranstaltung in Sopron luden Magas und seine Mitstreiter aber auch die Nachbargemeinden aus Österreich ein. "Wir planten ein großes Volksfest mit Musik und Volkstanz auf beiden Seiten der Grenze. Damit wollten wir feiern, dass der Eiserne Vorhang in Ungarn langsam abgebaut wurde."

Bereits seit Januar 1988 konnten Ungarn mit einem so genannten "Weltpass" ausreisen. Am 27. Juni 1989 durchtrennten der damalige österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn vor Journalisten den Grenzzaun. Zwar war der Grenzübertritt auch danach verboten, aber Ungarn war inzwischen der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten und lieferte keine DDR-Bürger mehr aus.

Flüchtlingswelle aus der DDR

Die Folgen der stückchenweisen Öffnung Ungarns konnte man an der Grenze nahe Sopron bereits sehen, erzählt Márta Pió, die damals für das ungarische Staatsfernsehen berichtete. "Ab Spätfrühling haben wir immer mehr DDR-Bürger gesehen, die in ihren Autos oder in den umliegenden Campingplätzen ausharrten. Irgendwann waren dann nur noch die leeren Autos da."

Die Journalistin Márta Pió (in Schwarz) war 1989 als Journalistin an der österreichisch-ungarischen Grenze. Doch viele DDR-Bürger hatten Angst, mit ihr zu sprechen. Bildrechte: Fortepan

Pió, ihr Fernsehteam und ein Fotograf siedelten in diesem Sommer quasi ins Grenzgebiet um, um jeden Tag über die Ereignisse berichten zu können. "Das war möglich, weil wir kurz zuvor einen neuen Nachrichtenchef bekommen hatten, der richtige News machen wollte", sagt die Journalistin.

Vor Ort trafen sie auf hunderte verzweifelter DDR-Bürger, die unbedingt ausreisen wollten. "Ich habe noch nie in meinem Leben so eine unglaubliche Entschlossenheit und Freiheitswunsch erlebt”, so Márta Pió. Nach einer Weile hätten sich die Flüchtlinge aber nicht mehr interviewen lassen, aus Angst vor Repressionen durch die Stasi gegenüber ihren daheimgebliebenen Familien.

Durchbruch mit Vorwarnungen

Derweil hatten die Organisatoren für den Picknick-Tag am 19. August 1989 die Genehmigung erhalten, das Grenztor für drei Stunden zu öffnen, damit Ungarn und Österreicher sich gegenseitig besuchen konnten. Zuvor hatten László Magas und seine Mitstreiter zweisprachige Handzettel mit einer Karte der Umgebung verteilt. "Dann erfuhren wir, dass auch Flüchtlinge die Flyer gesehen hatten", erzählte Magas. "Verdächtig war auch, dass ein ARD-Team schon drei Tage vor dem Volksfest auf österreichischer Seite Stellung bezog."

Am Nachmittag des Festes kam László Magas an das Tor, wo bereits hunderte DDR-Flüchtlinge durchgebrochen waren. "Es war eine euphorische Masse an Menschen", erinnert er sich an den Anblick. "Es war ein unglaubliches Glück, dass die ungarischen Grenzwächter nicht versucht haben, die Masse zu stoppen, sondern einfach alle durchgelassen haben.” 

Auch Márta Pió war an diesem Tag da und erinnert sich noch genau an eine Szene: “Ein kleines Kind stolperte. Seine Mutter war schon auf der österreichischen Seite, das Kind auf der ungarischen. Ein ungarischer Grenzer hat das Kind hochgehoben und der Mutter gegeben. Diese Geste beinhaltet für mich alles, was dieser Tag und das Picknick bedeuteten."

Sowjetische Reaktion getestet

Der damalige ungarische Ministerpräsident Miklós Németh gab später zu, dass man das Paneuropäische Picknicks erlaubte hatte, um zu testen, wie die Sowjetführung reagieren würde. Die 80.000 sowjetischen Soldaten in Ungarn griffen jedoch nicht ein. Auch zum Vorteil von László Magas: "Am 20. Jahrestag habe ich den früheren Staatsminister gefragt, was passiert wäre, wenn die Sowjets anders reagiert hätten? Würden wir jetzt im Gefängnis sitzen? Er hat mich umarmt und schmunzelnd gesagt: 'Nein, nein. Ihr hättet wahrscheinlich weniger als 20 Jahre bekommen.'"

Heute erinnert an der Grenze ein Denkmal daran, dass hier vor 30 Jahren DDR-Flüchtlinge das Holztor zu Österreich durchquert haben. Bildrechte: MDR/Piroska Bakos

Drei Wochen später, am 11. September 1989, wurden die Grenzen zwischen Ungarn und Österreich endgültig geöffnet. So konnten 50.000 bis 70.000 DDR-Bürger, die sich inzwischen in den Lagern am Balaton und Budapest aufhielten, das Land verlassen. "Ungarn hat damals den ersten Stein aus der Mauer geschlagen", sagte Bundeskanzler Helmut Kohl später. Es war am 4. Oktober 1990, dem Tag nach der deutschen Wiedervereinigung.

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN | MDR Zeitreise | 18. August 2019 | 22:25 Uhr