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Immer mehr Polen wenden sich von der Kirche ab - auf offiziellem Weg. Bildrechte: imago images / Hans Lucas

AbtreibungsgesetzPolen: Kommt jetzt der massenhafte Kirchenaustritt?

29. Oktober 2020, 08:34 Uhr

Tausende Polen demonstrieren täglich gegen ein Abtreibungs-Urteil des Verfassungsgerichts. Ihr Zorn richtet sich vor allem gegen die Katholischen Kirche. Der droht nun eine Welle an Kirchenaustritten.

von Anja Datan-Grajewski

Das war für viele polnische Frauen der eine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Das ohnehin schon strenge Abtreibungsgesetz in Polen wurde vergangene Woche vom Obersten Gericht als verfassungswidrig eingestuft. Das Abtreibungsgesetz in Polen galt in den vergangenen Jahren als Kompromiss zwischen liberalen und konservativen Kräften in Polen: Abtreibung war zwar verboten, es gab jedoch auch Ausnahmen wie etwa bei einer Behinderung des ungeborenen Kindes.

Seit Tagen nun demonstrieren Polinnen und Polen gegen diese Entscheidung: Sie legen polnische Städte durch Autokorsos lahm und halten Plakate mit Aufschriften wie "Die Hölle der Frauen" in Gottesdiensten hoch.

Corona macht es möglich: Demonstriert wird vielerorts nun mit Abstand im Auto wie hier im Warschauer Stadtzentrum. Bildrechte: imago images / ZUMA Wire

Google: Suchanfrage zu "Kirchenaustritt" steigt

Ihr Zorn richtet sich vor allem gegen die Katholische Kirche im Land. Anfang der Woche war "Apostazja" ("Kirchenaustritt") unter den Top 5 der bei Google Polen gesuchten Begriffe. Das merkt auch Krzysztof Gwizdała, der die Seite "apostazja.eu" betreibt. Seit der Entscheidung des Verfassungsgerichts wird seine Seite nach eigener Auskunft 200mal häufiger aufgerufen. Seit gut einem Jahr berät er auf Spendenbasis Polinnen und Polen zum Thema Kirchenaustritt. "Ich denke, die Menschen haben es satt, dass sich die Katholische Kirche in die Politik einmischt und den Polen vorschreibt, wie sie leben sollen", sagt Gwizdała.

Apostasiebezeichnet in der Theologie die Abwendung von einer Religionszugehörigkeit. Jemand, der eine Apostasie vollzieht, ist ein Apostat.

Kirchenaustritt in Polen auf Umwegen

Wer in Deutschland aus der Kirche austreten will, hat es relativ leicht. Ein Gang zum zuständigen Amt genügt; Formular ausfüllen, unterschreiben, ausweisen und schon ist man "raus". In Polen wurde das Verfahren zum Kirchenaustritt 2016 zwar vereinfacht, gleicht aber oft noch einem Spießroutenlauf, sagt Gwizdała: "Oft erschweren Priester den Austritt und sagen zum Beispiel, dass zwei Zeugen notwendig seien. Das stimmt aber nicht mehr."

80 Prozent der Anfragen an Gwizdała stammen von Frauen. Viele nutzen das Formular der Seite, um ihren Kirchenaustritt in Gang zu setzen. Einen solchen Vordruck nutzte Gosia auch. Die junge Frau aus Warschau, die bei diesem Thema lieber anonym bleiben möchte, ist bereits vor zwei Jahren aus der Kirche ausgetreten.

"Ich habe lange gezögert, weil ich dachte: Das Wichtigste ist doch, ob ich mich katholisch fühle oder nicht. Aber der "Schwarze Protest" hat mir gezeigt, dass ich eine symbolische Geste brauchte, mit der giftigen Beziehung Schluss zu machen." Seit dem Kirchenaustritt falle es Gosia leichter, die Katholische Kirche und ihre Leute offen zu kritisieren.

Kirchenaustritt in PolenSeit 2016 gilt ein neues, vereinfachtes Verfahren: Eine Person, die die Kirche verlassen möchte, muss eine schriftliche Absichtserklärung sowie die Taufurkunde beim örtlichen Priester einreichen. Zuvor war es erforderlich sich zweimal mit dem Priester zu treffen sowie Zeugen mitzubringen.

Konsequenzen eines Kirchenaustritts in Polen:
- Heilige Sakramente dürfen nicht empfangen werden.
- Man kann keine Taufpatin oder Trauzeuge werden.
- Es ist verboten, ein Amt in der Kirche anzunehmen.
- Es ist untersagt, kirchlichen Vereinigungen und Organisationen anzugehören.
- Die Beerdigung findet ohne Priester statt.

Kirchenaustritt = Signal an den Staat

Eigentlich ist ein Kirchenaustritt in Polen nicht vorgesehen und daher eher ein symbolischer Akt. Anders als in Deutschland gibt es in Polen keine Kirchensteuer. Die Kirche und ihre Geistlichen leben von dem, was die Gläubigen spenden. Das heißt: Diejenigen Polen, die sich jetzt zu einem Kirchenaustritt entscheiden, sind wohl auch schon lange nicht mehr in die Kirche gegangen, um sie somit auch mit ihrer Kollekte zu finanzieren. Trotzdem sieht Gosia den Kirchenaustritt nicht als unnütz an, denn ihr Austritt werde festgehalten und sei damit ein Signal an den Staat, dass die Kirche an Zuspruch verliere.

Polen: Mehrheitlich katholisch

Statistiken über Austritte führt die Kirche nicht, Schätzungen gehen bisher von ein paar hundert Austritten im Jahr aus. Der allgemeine Trend aber ist eindeutig: Auch wenn 90 Prozent der Polen sich als katholisch bezeichnen, zeigen neue Statistiken, dass jeder dritte junge Polen nichtgläubig oder nichtpraktizierend ist.

Kaczyński: "Wir müssen die Kirche verteidigen. Um jeden Preis"

Jarosław Kaczyński, der konservative PiS-Chef, dürfte nun selbst die Kirchenaustritte von wütenden Polinnen und Polen vorantreiben. In einer Facebook-Ansprache am 27.10.2020 sagte er: "Wir müssen uns wehren. Wir müssen die polnischen Kirchen verteidigen. Um jeden Preis. Ich rufe alle Mitglieder der Partei Recht und Gerechtigkeit und unsere Unterstützer auf, die Kirchen zu verteidigen."

Viele Polinnen und Polen prangern den Einfluss der Kirche auf die Politik und umgekehrt an. Die junge Polin Gosia ist auch deshalb ausgetreten. Am meisten störe sie jedoch das veraltete Frauenbild der Kirche. Und deshalb sei sie froh, kein Mitglied der Kirche mehr zu sein.

Sind bald alle polnischen Kirchen leer? Bildrechte: imago images / Hans Lucas

"Ich bin nicht einverstanden"

Auch der Betreiber der Internetseite "Kirchenaustritt", Gwizdała, sieht in der Entscheidung über das Abtreibungsgesetz ein Beispiel dafür wie die Katholische Kirche in Polen Frauen strukturell benachteiligt. "Das Frauenbild der Kirche ist einfach schlecht. Die Kirche hat zu viel Einfluss in Polen." Gwizdała ist überzeugt, dass die Proteste etwas in der polnischen Gesellschaft ändern. Und auch ein Kirchenaustritt kann seiner Meinung nach etwas bewegen. Auch wenn er nur symbolisch ist, so zeige er: "Ich bin nicht einverstanden mit dem, was ihr tut".

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 23. Oktober 2020 | 01:13 Uhr

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