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SchwangerschaftsabbruchPolen: Lebenslänglich für eine Abtreibung?

06. Dezember 2021, 12:30 Uhr

Abtreibung soll in Polen künftig als Mord gelten – das fordern katholische Fundamentalisten. Ein erster Gesetzentwurf dazu ist vom Parlament zwar abgelehnt worden – er sah Strafen zwischen fünf Jahren Gefängnis bis hin zu lebenslänglich vor. Doch eines steht jetzt schon fest: Das Thema ist damit nicht erledigt, denn Pro-Life-Organisationen und die katholische Kirche betreiben eine massive Kampagne nicht nur für die Einführung eines völligen Abtreibungsverbots, sondern auch um die Einstellung der Bevölkerung in ihrem Sinne zu beeinflussen.

von Aleksandra Syty, Warschau

Im Oktober 2020 wurde das ohnehin äußerst restriktive Abtreibungsrecht in Polen so weit verschärft, dass es de facto einem Abtreibungsverbot gleichkommt. Trotz massenhafter Proteste wollen katholische Fundamentalisten nun die letzten noch verbliebenen Ausnahmen davon abschaffen und für illegale Schwangerschaftsabbrüche dieselben Strafen wie für Mord einführen lassen. Bildrechte: imago images/NurPhoto

"Stoppt die Abtreibung 2021" war eine Bürgerinitiative der Stiftung "Pro – Das Recht auf Leben", hinter der katholische Fundamentalisten vom Ordo-Iuris-Institut stehen. 139.000 Unterschriften wurden für den Gesetzentwurf gesammelt, oft mit Hilfe katholischer Kirchengemeinden.

Nach Ansicht der Initiatoren reicht das Urteil des Verfassungsgerichts, das eine von drei gesetzlichen Ausnahmen vom Abtreibungsverbot – eine schwere, irreversible Schädigung des Fötus – aufgehoben hat, nicht aus, denn die "Verfolgung von Abtreibungsdelikten" sei dadurch nicht geregelt: "Das Strafgesetzbuch in seiner jetzigen Form ist überhaupt nicht auf die Bekämpfung von Abtreibungskriminalität vorbereitet, die zu einem großen Teil auf dem Handel mit Abtreibungsmitteln und der Ermöglichung von Abtreibungen außerhalb medizinischer Einrichtungen beruht" – lesen wir in der Begründung.

Embryo soll als Mensch gelten

Der Entwurf basierte auf einer Idee, die im polnischen Recht und in der Medizin bisher unbekannt war – das Strafgesetzbuch sollte den Begriff "Kind" neu definieren: "Ein Kind ist ein menschliches Wesen in der Zeit von der Empfängnis bis zur Volljährigkeit". Und: "Ein gezeugtes Kind ist ein Kind in der Zeit bis zum Beginn der Entbindung". Die Folge: Die strafrechtlichen Bestimmungen zum Mord würden bei einer solchen Definition auch für den Schwangerschaftsabbruch gelten – und zwar in jedem Fall, ohne Ausnahmen.

Völliges Abtreibungsverbot in Polen

Das Projekt lief also auf ein totales Abtreibungsverbot hinaus. Die beiden noch verbliebenen Gründe für eine legale Abtreibung wären aufgehoben worden: Gefährdung der Gesundheit und des Lebens der Frau durch die Schwangerschaft sowie Schwangerschaft infolge einer Vergewaltigung und eines Inzests. Es kam nur noch auf den Schutz von Embryo und Fötus an – kein Wort vom Schutz der Frauen.

Der Entwurf sah Strafen von fünf bis 25 Jahren Gefängnis oder lebenslange Haft für die Mutter, den abtreibenden Arzt und alle, die bei der Durchführung von medikamentösen Schwangerschaftsabbrüchen helfen, vor. Für die Mutter sollten Gerichte als besondere Gnade eine außerordentliche Strafmilderung anwenden oder von der Strafe absehen können.

Auch natürliche Fehlgeburten unter Umständen strafbar

Selbst Frauen, die eine natürliche Fehlgeburt erleiden (und das ist bei etwa zehn bis 15 Prozent der medizinisch festgestellten Schwangerschaften der Fall), müssten bangen, wäre das Gesetz angenommen worden: Sie sollten nämlich bestraft werden, wenn sich bei einer Untersuchung herausstellen würde, dass sie "nicht die für eine Person in ihrem Zustand erforderliche Sorgfalt gewahrt" haben. Dabei wäre es die Aufgabe der Staatsanwaltschaft gewesen, zu untersuchen, ob es sich um eine fahrlässig oder absichtlich herbeigeführte Fehlgeburt handelt. Ähnliche Strafbestimmungen sind im mittelamerikanischen El Salvador in Kraft.

Seit der Verschärfung des Abtreibungsrechts im Oktober 2020 gab es in Polen mehrere große Proteste, zuletzt im November 2021. Damals war der Tod einer 30-Jährigen der Auslöser, die an Sepsis starb, weil die Ärzte ihre nicht überlebensfähige Schwangerschaft nicht abbrechen wollten. Bildrechte: imago images/NurPhoto

Katholische Fundamentalisten in der Offensive

Dabei ist es offensichtlich, dass die Ideen der katholischen Fanatiker auf Kollisionskurs mit den Wünschen der Gesellschaft liegen. Umfragen zeigen deutlich, dass die Polen solche Lösungen nicht wollen. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts United Surveys sprachen sich im Oktober 73,9 Prozent der Befragten sogar für eine Lockerung des geltenden Abtreibungsgesetzes aus: 42,8 Prozent wollen eine Rückkehr zum sogenannten "Abtreibungskompromiss" aus der Zeit vor dem Urteil des Verfassungsgerichts und 31,1 Prozent möchten, dass Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche unabhängig von der Indikation möglich sind. Alle Umfragen zeigen außerdem deutlich, dass Strafen für die abtreibende Mutter keine Unterstützung in der Gesellschaft haben – nur etwa acht Prozent der Befragten sind dafür.

Gesetzgebungsverfahren im Eiltempo

Dem Sejm liegen seit einem Jahr zwei sogenannte "Rettungsentwürfe" vor, die die Folgen des Urteils des Verfassungsgerichts abmildern sollen, einer davon von Staatspräsident Andrzej Duda. Doch bisher schaffte es keiner davon auf die Tagesordnung des Parlaments. Umso mehr fällt auf, dass der jetzige Verschärfungsentwurf außerordentlich schnell bearbeitet wurde.

Tragische Symbolik

Von tragischer Symbolik ist dabei die Tatsache, dass der Entwurf am 22. September 2021 eingereicht wurde – dem Tag, als Izabela aus Pszczyna wegen der unterlassenen Abtreibung eines schwer geschädigten, nicht überlebensfähigen Fötus an Sepsis gestorben ist. Sie hinterließ eine 9-jährige Tochter und ihren Ehemann.  Für viele Polen steht seitdem fest: Religiöse Fundamentalisten sind nur um "ungeborene Kinder" besorgt, der Schutz und die Unterstützung des real existierenden Lebens interessiert sie nicht.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 07. November 2021 | 19:30 Uhr