Polen | Deutschland Verschärftes Abtreibungsgesetz: Polinnen suchen Hilfe in Deutschland

16. November 2020, 11:39 Uhr

Seit Ende Oktober sind in Polen Schwangerschaftsabbrüche durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts faktisch verboten. Das sorgt nicht nur für anhaltende Proteste, sondern schafft auch ein Klima der Angst und Verzweiflung. Viele Polinnen kommen nun nach Deutschland, um hier einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen.

Seit einer Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, die Abtreibungen in Polen faktisch verbietet, arbeiten die Aktivistinnen von "Ciocia Basia", zu Deutsch "Tante Barbara", fast rund um die Uhr. "In E-Mails und Anrufen, die uns erreichen, können wir eine Menge Angst und Unsicherheit feststellen", sagt Zuzanna Dziuban. Für die, die sich entscheiden zur Abtreibung nach Berlin zu kommen, organisiert die Gruppe nicht nur den Termin in der Klinik und die Unterkunft, sondern vermittelt auch den Kontakt zu Beratungsstellen mit polnischsprachigen Mitarbeitern, wie "pro familia". Die Berliner Gruppe "Tante Barbara" hilft Polinnen, die sich für eine Abtreibung entscheiden haben, seit 2015. Zusammen mit anderen Organisationen des europäischen Netzwerkes "Abortion Without Borders" ermöglichen die Aktivistinnen chirurgische und medikamentöse Abbrüche und unterstützen die Frauen nicht nur finanziell, sondern auch emotional bei ihrer Entscheidung. Nicht alle, die "Tante Barbara" kontaktieren, kommen persönlich nach Berlin. Viele wollen sich zunächst nur informieren oder ihre Sorgen teilen, weil sie das in Polen nicht können. Viele Polinnen fühlen sich mit ihrer Entscheidung allein gelassen.

Urteil des Verfassungsgerichts

Nun hat das polnische Verfassungsgericht am 22. Oktober 2020 entschieden, dass Frauen selbst dann nicht abtreiben dürfen, wenn ihr ungeborenes Kind schwere Fehlbildungen hat. Seitdem gehen Zehntausende Menschen gegen die Entscheidung auf die Straße. Sie machen die konservative PiS-Regierung und die katholische Kirche für die Entscheidung verantwortlich. Schon vor der Entscheidung gehörte das Abtreibungsgesetz in Polen zu einem der restriktivsten in ganz Europa. Abtreibungen waren nur erlaubt, wenn das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren bedroht ist, das Kind so stark geschädigt ist, dass es nicht gerettet werden kann, oder die Schwangerschaft das Ergebnis einer Straftat ist. Wird das Urteil amtlich, würde der Staat damit viele Frauen zwingen, schwerkranke Kinder zur Welt zu bringen.

Polen, Abtreibung, Frau
"Ich werde kein lebender Sarg sein", steht über diesem stilisierten Kindersarg, den eine Demonstrantin auf einem der Proteste trägt. Nach den neuen Abtreibungsregelungen soll ein Schwangerschaftsabbruch selbst dann verboten sein, wenn das Ungeborene schwerste, sogar lebensbedrohliche Fehlbildungen hat. Bildrechte: imago images/ZUMA Wire

Abbrüche meistens wegen Fehlbildungen

1.100 offizielle Schwangerschaftsabbrüche gab es vergangenes Jahr in Polen. Fast 98 Prozent aufgrund von Fehlbildungen des Fötus. Nach der neuen Regelung wären also die meisten dieser Abtreibungen illegal. Schon vor der Verschärfung war es Polinnen in ihrer Heimat kaum möglich legal abzutreiben, auch wenn einer der wenigen Ausnahmefälle zutraf. Viele der Ärzte verweigern Schwangerschaftsabbrüche aus ethischen Gründen oder weil sie fachlich dazu nicht in der Lage sind. Deshalb kamen bisher schon jährlich hunderte Polinnen nach Deutschland, um hier sicher abzutreiben.

Polen, Abtreibung, Plakate in Hecke
Frauen in ganz Europa solidarisieren sich mit den Polinnen wie hier in Mailand, Italien, vor dem polnischen Konsulat. Bildrechte: imago images/Independent Photo Agency Int.

Seit Polens EU-Beitritt

"pro familia Berlin" beobachtet das seit Polens EU-Beitritt. Mittlerweile kommen schätzungsweise zehn Polinnen im Monat in die Beratungsstelle, um dort das obligatorische Schwangerschaftskrisengespräch zu führen. Ein Großteil von ihnen kommt allein. Aus Angst vor dem Stigma in der Heimat, weihen viele Frauen nicht einmal ihre engsten Vertrauten ein. Den Erfahrungen der Berater zufolge, ist es deshalb vor allem die Betretung, aber auch das Vertrauen in das Gesundheitssystem und den Datenschutz, was viele Polinnen, die sich entschlossen haben, abzutreiben, nach Detuschland treibt, auch wenn ein Abbruch hier teuer ist. Bis zu 600 Euro kann die Reise kosten, in der Slowakei würden die Frauen nur die Hälfte bezahlen.

Bis zu 150.000 Abtreibungen pro Jahr

Frauenorganisationen schätzten, dass jährlich bis zu 150.000 Polinnen abtreiben. Genaue Statistiken gibt es dazu nicht. Urzula Grycuk, von der der NGO "Föderation für Frauen- und Familienplanung" in Polen, sieht in der Entscheidung des Verfassungsgerichts ein enormes Risiko für die Gesundheit der Frauen: "Abtreibungen zu verbieten, bedeutet nicht, dass es keine Abtreibungen mehr geben wird. Jeder illegale Schwangerschaftsabbruch kann in einem gefährlichen, lebensbedrohlichen Abbruch enden." Die Frauen, die sich einen Abbruch im Ausland nicht leisten können, werden in den Untergrund getrieben, lassen dort chirurgische Eingriffe durchführen oder nehmen Medikamente, ohne angemessene Betreuung. Wenn es in Polen zukünftig keine legale Möglichkeit mehr geben wird, eine Schwangerschaft aufgrund von Fehlbildungen des Fötus abzubrechen, werden sich viele Frauen von vornherein gegen eine Schwangerschaft entscheiden, so Urzula Grycuk. "Zukünftig  wird sich das auf alle Frauen auswirken, die in Polen schwanger werden wollen. Ich meine: Ich hätte Angst davor, in diesem Land schwanger zu werden."  

Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell Radio | 31. Oktober 2020 | 21:30 Uhr

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