Covid-19-Pandemie Das Warschauer Corona-Lazarett: ein Krankenhaus ohne Kranke

03. Februar 2021, 17:31 Uhr

In Polen sorgen die Enthüllungen eines Arztes für Empörung. Das große Feldkrankenhaus, das im Warschauer Nationalstadion für Corona-Patienten eingerichtet wurde, steht so gut wie leer. Technik bleibt ungenutzt, Ärzte langweilen sich - und das obwohl anderswo die Betten fehlen und Patienten in Krankenwagen draußen vor den Toren sterben. Was läuft da schief?

Polens Ministerpräsident Morawiecki im Nationalkrankenhaus
Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki besuchte das Corona-Lazarett im Nationalstadion kurz vor der Eröffnung. Durch das Fenster im Hintergrund sieht man die Zuschauertribüne. Bildrechte: imago images / Xinhua

Als Polens Ministerpräsident Morawiecki Anfang November vor laufenden Kameras das Feldkrankenhaus im Nationalstadion in Warschau besuchte, sah man ein perfekt eingerichtetes Corona-Lazarett. 300 Betten waren aufgestellt worden, angeschlossen an fünf Kilometer Sauerstoffleitungen, dazu 160 EKG-Monitore, 45 Beatmungsgeräte und einiges mehr. Regierungschef Morawiecki ließ sich an einem Computertomografen filmen und gab eine Pressekonferenz. Die medizinische Betreuung werde kaum von der in einem stationären Krankenhaus abweichen, hieß es.

Corona-Lazarett im Nationalstadion: ein Potemkinsches Dorf

Doch schon bald stellte sich das Märchen vom Nationalkrankenhaus, wie die neue Einrichtung großspurig genannt wird, als Fake heraus – allem Anschein nach ein Potemkinsches Dorf, das nur für die Propaganda geschaffen wurde. Denn während das Gesundheitswesen in Polen unter der Last der Covid-19-Pandemie langsam zusammenbricht, steht das mit Pump eingeweihte Nationalkrankenhaus so gut wie leer. Als ein Assistenzarzt vor gut einer Woche in der Wochenzeitung "Polityka" anonym auspackte, platzte in Polen eine mediale Bombe.

Ich bin hierhergekommen, um gegen die Pandemie zu kämpfen. Stattdessen wohne ich jetzt in einem Fünf-Sterne-Hotel und sitze in einem leeren Krankenhaus herum. Ich spreche deshalb darüber, weil es mir peinlich ist, daran teilzunehmen.

Anonymer Assistenzarzt aus dem Nationalkrankenhaus "Polityka" vom 21.11.2020

Das Interview mit dem Mann, der sich als Dr. M. vorstellte, schlug hohe Wellen. Von den 300 momentan fertigen Betten (ihre Zahl wird derzeit aufgestockt) waren ihm zufolge nur etwa 25 belegt. Das Team sei in Gruppen aufgeteilt, die sich während einer 12-Stunden-Schicht alle drei Stunden abwechseln würden. Zu seiner letzten Schicht seien fünf Ärzte, zwölf Schwestern und sieben Sanitäter da gewesen, berichtet Dr. M. – alles in allem also 24 Leute, die sich um 25 Patienten kümmerten. Da das Team doppelt besetzt ist, gab es damit im Nationalkrankenhaus offenbar doppelt so viel Personal wie Patienten – Stationshilfen, Security und aushelfende Soldaten oder Feuerwehrleute noch nicht mitgerechnet! Was machen die Ärzte, wenn es keine Patienten gibt, wollte der Reporter der "Polityka" wissen. "Sich langweilen" – entgegnete Dr M., dessen anonyme Angaben später vom Direktor des Nationalkrankenhauses, Dr. Artur Zaczyński, im Wesentlichen bestätigt wurden. Und auch ein Twitter-Video, das ein Mitarbeiter trotz Verbots gedreht hat, zeigt nichts als leere Betten. Der Autor spöttelt: Wer einen Patienten entdeckt, bekomme eine Coronaimpfung geschenkt.

Corona-Pandemie überfordert Polens Gesundheitssystem

Die Öffentlichkeit in Polen reagierte empört auf die Enthüllung, denn anderswo ist das System völlig überlastet. Die Notaufnahmen platzen aus allen Nähten und Krankentransporte fahren teilweise stundenlang von einem Krankenhaus zum nächsten, um einen freien Platz für ihren Covid-Patienten zu finden. In mehreren Warschauer Krankenhäusern müssen sich die überfüllten Covid-Stationen mit Zustellbetten behelfen. Es gibt zu wenig Ärzte, Schwestern und Pfleger. Sie kommen mit der Betreuung der Kranken oft nicht mehr hinterher. Erst vor wenigen Tagen ging eine Fotoserie viral durchs Netz, die eine Corona-Patientin in einer sehr misslichen Lage zeigte. Die Frau lag entblößt auf dem Fußboden neben ihrem Krankenhausbett. Mit einer aufgeplatzten Windel, beschmutzt durch Fäkalien, versuchte sie verzweifelt aufs Bett hochzuklettern – war aber dafür zu schwach und blieb längere Zeit liegen.

Ein trauriger Beleg dafür, dass Polens Gesundheitssystem unter der Wucht der Pandemie zusammenbricht. Es ist eine Folge jahrzehntelanger Unterfinanzierung, die sich auch in der Statistik niederschlägt. So hat Polen nach dem neuesten OECD-Bericht "Health at a Glance: Europe 2020" auf die Einwohnerzahl bezogen dreimal weniger Intensivbetten und nur halb so viele Ärzte wie Deutschland. Bei den Zusatzausgaben für die Bekämpfung der Corona-Pandemie schnitt Polen pro Kopf gerechnet fast viermal schlechter ab als Deutschland.

Gesundheitssysteme im Vergleich (nach OECD)
  Polen Deutschland
Ärzte auf 1.000 Einw. 2,4 4,3
Intensivbetten auf 100.000 Einw. 10,1 33,9
Zusätzliche Corona-Ausgaben pro Kopf 80,02 EUR 301,76 EUR

In einer solchen Situation wäre das Nationalkrankenhaus in Warschau eine mehr als willkommene Entlastung – ist es aber nicht. Das liegt auch an seinen hochgeschraubten Aufnahmekriterien.

Nur beinahe Gesunde dürfen ins Corona-Lazarett

Die Covid-Patienten dürfen keinen akuten Krankheitsverlauf aufweisen und keine chronischen Erkrankungen haben. Kreislauf und Lungen müssen soweit stabil sein, dass sie keine intensivmedizinische Betreuung erfordern. Bis vor wenigen Tagen waren Patienten mit einer Lungenentzündung ausdrücklich ausgeschlossen, obwohl das eine der häufigsten Covid-Komplikationen ist. Ärzte von anderen Krankenhäusern spotten deshalb, dass sie nur gesunde Corona-Patienten ins Nationalkrankenhaus schicken dürfen – solche, die ihre Coronavirus-Infektion genauso gut zu Hause auskurieren könnten. Das Nationalkrankenhaus sei im Grunde kein Krankenhaus, sondern eine Isolierstation oder ein Sanatorium, heißt es.

Nationalkrankenhaus / Corona-Lazarett im Nationalstadion Warschau
Das Warschauer Corona-Lazarett wurde im Nationalstadion eingerichtet - daher der Name "Nationalkrankenhaus". Bildrechte: imago images / Eastnews

Dessen Direktor, Dr. Zaczyński, verteidigte in den Medien die restriktiven Vorgaben: Es handle sich um eine neue Einrichtung, in der sich die Abläufe noch zurechtschütteln müssten, deshalb könne man nicht auf einen Schlag 300 Schwerkranke aufnehmen, von denen die Hälfte dann sterben werde. Und: Es würden zwar nur leichte Fälle aufgenommen, die Patienten bräuchten aber Sauerstoff und Infusionen und könnten deshalb keineswegs nach Hause gehen. Fakt ist aber auch: Die Rettungsdienste und stationären Krankenhäuser hören inzwischen auf, überhaupt beim Nationalkrankenhaus anzufragen. Der Direktor räumte ein, dass sich die Zahl der Anmeldeversuche von 15-20 am Tag auf 7-8 mehr als halbiert hat.

Finanzierungsmodell begünstigt leere Betten

Für Unverständnis sorgt auch die Finanzierung der nahezu leeren Einrichtung. Denn die ist nicht nur deutlich üppiger als bei stationären Krankenhäusern – die Tagesätze sind auch so festgelegt, dass es sich finanziell fast nicht lohnt, Patienten aufzunehmen – für belegte Betten bekommt das Nationalkrankenhaus nur unwesentlich mehr Geld als für das bloße Bereithalten derselben.

Vergleich der Tagesätze für Corona-Behandlung
  Nationalkrankenhaus Stationäres Krankenhaus
Beatmungsgerät unbelegt 3.774 Złoty 200 Złoty
Beatmungsgerät belegt 4.321 Złoty 1.154 Złoty
Bett unbelegt 822 Złoty 100 Złoty
Bett belegt 1.024 Złoty 330 Złoty (leichte Fälle)
    630 Złoty (schwere Fälle)

Bartosz Arłukowicz, seines Zeichens Arzt, Europaparlamentarier und ehemaliger Gesundheitsminister, fordert deshalb einen Untersuchungsausschuss. Die leerstehenden Betten und ungenutzten Beatmungsgeräte würden monatlich "einen Gewinn von etwa 18 Millionen Zloty abwerfen" (rd. 4 Mio. Euro), empört er sich in den polnischen Medien und gibt zu verstehen, dass hier Korruption oder politische Vetternwirtschaft im Spiel sein könnten. Fakt ist: Abgeordnete der Opposition fanden heraus, dass mit der Betreiberfirma des Nationalkrankenhauses bislang kein regulärer Vertrag unterschrieben wurde, die enormen Summen fließen "einfach so".

Personalprobleme trotz üppiger Gehälter

"Ich erwarte, dass sie dort entweder anfangen, Patienten zu behandeln, die eine Beatmung brauchen, oder die Beatmungsgeräte an Leute weitergeben, die sie brauchen und bedienen können", sagte Arłukowicz der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Damit spielt er wohl darauf an, dass das Nationalkrankenhaus große Schwierigkeiten hatte, eine qualifizierte Besetzung hinzubekommen. Ärzte wurden in ganz Polen angeworben und mit üppigen Gehältern gelockt, die teilweise doppelt so hoch sein sollen wie üblich. Dennoch ist es laut Arłukowicz nicht gelungen, genug Mediziner mit der nötigen Erfahrung und passender Fachrichtung zu komplettieren – gebraucht werden vor allem Infektiologen und Anästhesisten. Das Team bestehe aber zu einem Großteil aus wenig erfahrenen Ärzten, teilweise ohne abgeschlossene Facharztausbildung, oder Medizinern aus "fremden" Fachgebieten, die bei Covid-19 weniger nützlich sind.

Krankenhausbetten
Die meisten Betten im Warschauer Corona-Lazarett bleiben leer. Bildrechte: imago images / Eastnews

Dr. M, der mit seinen Enthüllungen das Thema in die Schlagzeilen katapultierte, ist einer dieser jungen Mediziner. Er ist Assistenzarzt an einem Krankenhaus in der Provinz und mitten in der Ausbildung. Fürs Warschauer Corona-Lazarett meldete er sich, weil er helfen wollte, aber auch weil er auf eine Eigentumswohnung spart. Das großzügige Hotelappartement, in dem er untergebracht wurde, befinde sich übrigens in einem der teuersten Hotels der Hauptstadt und sei größer als seine kleine Mietwohnung, berichtet er.

Vorwurf: Corona-Lazarett für Propagandashow missbraucht

Seiner Meinung nach ist das Krankenhaus gar nicht auf schwere Fälle eingestellt. Der Beleg in seinen Augen: Narkosemittel, die man zum Intubieren braucht, stünden auf der Intensivstation gar nicht bereit und müssten im (seltenen) Bedarfsfall erst aus der Krankenhausapotheke besorgt werden. Dr. M. fühlt sich betrogen:

Ich lese die Kommentare im Internet, die Leute spotten über uns. Ungerecht, denn niemand ist hierhergekommen, um faul herumzusitzen. Alle hatten gute Absichten. Aber ein bisschen kann ich den Hohn verstehen. Wegen unserer Naivität. Wegen dieser Pressekonferenzen, Kameras und Politikerauftritte. (...) Wenn man es kühl analysiert, kann man darauf kommen, dass es nicht um den Kampf gegen die Pandemie geht. Ich bin in einem Propagandaspektakel aufgetreten und bin jetzt sauer, weil ich betrogen wurde.

Anonymer Assistenzarzt aus dem Nationalkrankenhaus "Polityka" vom 21.11.2020

Bislang spricht in der Tat alles dafür, dass Polens berühmtestes Krankenhaus gar nicht in der Lage ist, das System zu entlasten. Für eine Propagandashow von Ministerpräsident Morawiecki war es aber sehr wohl geeignet – ein Potemkinsches Dorf mit 300 leeren Hütten, wenn man so will, aber fast ohne Einwohner. Da stellt sich die Frage, ob die anderen 20 Corona-Lazarette, die derzeit in Polen gebaut werden, ähnlich leer bleiben.

Polens Ministerpräsident Morawiecki im Nationalkrankenhaus
Polens Regierungschef Morawiecki prahlt Anfang November im Scheinwerferlicht mit dem Warschauer Corona-Lazarett. Doch das steht seitdem nahezu leer, während andere Krankenhäuser Zustellbetten aufstellen müssen. Bildrechte: imago images / ZUMA Wire

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 05. Dezember 2020 | 06:30 Uhr

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