Russland Klatsche für Putin: Russlands Osten begehrt auf

27. Juli 2020, 11:56 Uhr

Die Proteste in Chabarowsk im Osten Russlands verdeutlichen, wie aufgeladen die Stimmung im Land ist. Putins Triumph beim Verfassungsreferendum verblasst zusehends. Im Kreml sorgt man sich derweil, dass Chabarowsk eine Art Blaupause für künftige Konflikte auf regionaler Ebene sein könnte.

Fotomontage Mann vor Fahne
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Ein Protestteilnehmer hält ein Schild hoch und ruft etwas.
Sind Putins "Flitterwochen" nach dem Verfassungsreferendum vorbei? Proteste gegen den Herrscher im Kreml. Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Erst Anfang Juli schien die Macht des russischen Präsidenten für die kommenden Jahre und sogar Jahrzehnte in Beton gegossen zu sein. Knapp 80 Prozent der Russen, so das offizielle Wahlergebnis, hatten sich bei einer Abstimmung für eine neue Verfassung ausgesprochen. Diese erlaubt es Putin, bis ins Jahr 2036 an der Spitze des russischen Staates zu bleiben. Putins Sprecher nannte das ein "triumphales Ergebnis".

Protestwelle überraschte Moskauer Machtelite

Geradezu überrascht wirkte die Moskauer politische Führung, als der scheinbare Triumph fast nahtlos in eine neue Protestwelle überging. In der russischen Hauptstadt solidarisierten sich Hunderte Journalisten mit ihrem Ex-Kollegen Iwan Safronow, der sich derzeit einer Anklage wegen Landesverrat ausgesetzt sieht. Die genauen Umstände der Vorwürfe bleiben geheim, was selbst die Vertreter staatlicher Sender und Medien als wenig vertrauenswürdig empfinden. Etliche Medienvertreter wurden bei Einzelprotesten in Moskau festgenommen und kurze Zeit später wieder freigelassen. Der Kreml versuchte die Wogen mit der Feststellung zu glätten, man habe Safronows Arbeit geschätzt und beobachte den Prozess genau.

Unmut über Politik des Kremls

Deutlich ärgerlicher dürften für den Kreml jedoch die Proteste in der fernöstlichen Großstadt Chabarowsk sein, wo am vergangenen Wochenende bereits zum zweiten Mal Zehntausende Menschen auf die Straße gingen, um gegen die Verhaftung des Gouverneurs Sergej Furgal zu protestieren. Vor zwei Jahren hatte Furgal, einst Dumabgeordneter für die Marionettenpartei LDPR, bei der Gouverneurswahl den Kandidaten von Putins Partei "Einiges Russland" besiegt. Damals werteten Beobachter seinen Sieg als Protestwahl. In den vergangenen Wochen zeigte sich aber, dass der Unmut über die Politik des Kremls in entlegenen Regionen des Nordens und Ostens weiter zunimmt. Eine der häufigsten Forderungen lautet: "Moskau, verschwinde aus dem Fernen Osten!" Die Menschen wollen nicht mehr länger hinnehmen, dass Moskau alles für sie entscheidet, angefangen beim Haushalt bis hin zum Gouverneur.

Menschen demonstrieren in Khabarovsk
Proteste in Chabarowsk Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Der Vorwurf: Auftragsmord

Nun wird Furgal ein Auftragsmord vorgeworfen, der etwa 15 Jahre zurückliegen soll. Ein Oppositioneller war Furgal nie, führte jedoch eine von Moskau unabhängige Regionalpolitik. Beim jüngsten Referendum über die neue Verfassung stimmten in Chabarowsk so wenige Wähler für Putins Änderungvorschläge wie kaum in einem anderen Gebiet Russlands - nur gut 60 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 44 Prozent. Im Landesschnitt lag die Wahlbeteiligung offiziell bei 65 Prozent, wobei 78 Prozent der Wähler für die Verfassungsänderung votiert haben sollen.

In Russlands Fernem Osten sind viele überzeugt, dass die Verhaftung eine Retourkutsche des Kremls ist. Nicht umsonst forderten die Demonstranten in der 600.000-Einwohner-Stadt Chabarowsk ein ehrliches und transparentes Gerichtsverfahren für ihren Gouverneur. Während die staatlichen Kanäle die Demonstrationen ignorierten, kursieren im Netz Videos, die zeigen, wie Tausende Bewohner im Zentrum der Stadt die Freilassung Furgals fordern.

Sergei Furgal
Sergej Furgal Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Putins Sprecher: "Verständnis für die Emotionen"

Doch vor allem der Protest in Chabarowsk zeigt, dass der scheinbar große Zuspruch bei der jüngsten Wahl nicht in vollem Maße die Stimmung im Land widerspiegelt. Zumal unabhängige Beobachter auch diesmal eklatante Wahlfälschungen beklagten. Schon der Versuch des Kremls, die Proteste in Chabarowsk als bezahlt und von ausländischen Strippenziehern organisiert zu diskreditieren, scheiterte kläglich. Waren Anfang Juli etwa 20.000 Menschen auf der Straße, hatte sich die Zahl der Protestierenden nur eine Woche später deutlich erhöht. Die angesehene Moskauer Zeitung "Kommersant" berichtete von bis zu 50.000 Demonstranten. Das wäre fast jeder zehnte Einwohner der Stadt. Inzwischen gehen die Menschen in Chabarowsk täglich auf die Straße. Am Wochenende protestierten bereits 100.000 Menschen. Dies wurde offenbar auch im Kreml registriert. Putins Sprecher äußerte gar "Verständnis für die Emotionen in Chabarowsk" und lobte, dass die Proteste ohne "Provokationen und Exzesse" verlaufen seien.

Vladimir Putin zeigt seinen Ausweis
Präsident Wladimir Putin beim Verfassungsreferendum Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Interims-Gouverneur erst nach 14 Tagen ernannt

Dass der Kreml sich des Ernstes der Lage bewusst ist, zeigt auch der Umstand, dass Sergej Furgal trotz seiner Verhaftung noch vierzehn Tage im Amt blieb. Am vergangenen Sonntag erklärte der Chef der LDPR-Partei, Wladimir Schirinowski, der auch Furgal angehört, dass der Übergangsgouverneur bis zu den kommenden Wahlen ebenfalls aus den Reihen der LDPR kommen werde. Am 21. Juli wurde Furgal dann doch abgelöst. Wladimir Putin ernannte Michail Djagterew von der LDPR zum Übergangsgouverneur. Politische Beobachter werten dies als Zugeständnis sowohl an die Demonstranten in Chabarowsk als auch an die Partei, der der verhaftete Furgal angehört.

Oppostion will Putins Partei in Bedrängnis

Doch das Problem für den Kreml ist deutlich größer, als die politische Krise in einer einzelnen Region. Denn Chabarowsk könnte eine Art Blaupause für künftige Konflikte auf regionaler Ebene sein. Denn während die liberale und prowestliche Opposition kaum noch bei Wahlen antreten darf, kanalisieren ausgerechnet Parteien wie die LDPR oder die Kommunisten den Protest der Wähler.

Das wollen auch Oppositionelle wie Alexej Nawalny politisch nutzen. Erst vor wenigen Wochen rief er seine Anhänger dazu auf, bei Regionalwahlen im Herbst für Vertreter solcher Parteien zu stimmen, die von Putin-Kritikern bisher abfällig als "Systemopposition" bezeichnet wurden. Sein Ziel: Die Vertreter der Regierungspartei "Einiges Russland" in Bedrängnis zu bringen. Schon im September werden in 18 russischen Regionen die Gouverneure direkt gewählt.

Porträt Maxim Kireev 3 min
Maxim Kireev Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL TV | 01. Juli 2020 | 19:30 Uhr

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