Pandemie Warum in Rumänien gerade so viele Menschen an Covid-19 sterben

23. Oktober 2021, 14:50 Uhr

Rumänien gibt EU-weit mit rund sechs Prozent seines Bruttoinlandsproduktes das wenigste Geld für sein Gesundheitssystem aus. Es steht gerade am Rande seines Zusammenbruchs, da derzeit zahlreiche Corona-Patienten ins Krankenhaus kommen, viele mit schweren Verläufen. Der Bukarester Politikexperte Cristian Pirvulescu sagt, die Situation in Rumänien sei gerade schlimmer als in Italien zu Beginn der Pandemie – und das, obwohl es Impfstoffe gibt.

Rumänien zählt derzeit die meisten Corona-Toten weltweit, bezogen auf seine Bevölkerungszahl. Binnen einer Woche starben täglich mehr als 400 Menschen an den Folgen einer Corona-Erkrankung. Alle staatlichen Krankenhäuser sind völlig überlastet, täglich müssen sie Hunderte neuer Corona-Patienten aufnehmen, mit teils schweren Verläufen. Ärzte berichten von teils "apokalyptischen Szenen", Patienten würden sich gegenseitig wegschubsen, um an die wenigen Beatmungsgeräte zu kommen. Es fehlt an Geräten, an Intensivbetten und vor allem an Personal. Längst müssen die Ärzte eine Triage vornehmen und angesichts der begrenzten Zahl der Intensivbetten entscheiden, wen sie noch retten können und wen nicht. Rumänien gehört mit einer Impfquote von rund 30 Prozent zu den Schlusslichtern in der EU (Stand 22. Oktober 2021). Genügend Impfstoff – angefangen von Biontech, über Moderna, Astrazeneca und Johnson & Johnson – hatte es im Jahresverlauf im Land gegeben. Doch prominente Verschwörungstheoretiker und orthodoxe Priester haben große Zweifel an den westlichen Impfstoffen gesät. Viele rumänische Intensivmediziner sehen in der geringen Impfquote die Hauptursache für das immense Ausmaß der vierten Corona-Welle im Land. Hinzu kommt: Rumänien steht in seiner schwersten Gesundheitskrise derzeit ohne Regierung da. Warum die Impfquote so niedrig ist und was Staatspräsident Klaus Iohannis jetzt unternehmen kann, haben wir Cristian Pirvulescu gefragt, den Dekan der Politikfakultät der SNSPA in Bukarest.

Sauerstoffflasche auf einer Rettungsstelle im Kreiskrankehaus von Piatra Neamt
Eine Sauerstoffflasche in der Rettungsstelle vom Kreiskrankenhaus in Piatra Neamt. Bildrechte: MDR/Annett Müller-Heinze

Herr Pirvulescu, warum haben sich so wenige Rumänen impfen lassen?

Die Mehrheit hat die staatliche Impfkampagne mit Argwohn betrachtet. Das Vertrauen in alle politische Parteien ist in Rumänien äußerst gering. Man wirft den Politikern vor, den Staat als Instrument für die eigenen Interessen zu benutzen, um Machtpositionen zu sichern, um sich zu bereichern. Dieses Negativ-Image stört die Politiker nur wenig, jedoch wird damit ein Prozess in Gang gesetzt, der eine Gesellschaft auf einmal unregierbar machen könnte. Genau das erleben wir gerade in Rumänien. Wenn 70 Prozent der Bevölkerung die Corona-Schutzimpfung demonstrativ ablehnen und sich lieber auf Verschwörungstheorien berufen, dann hat man es mit einem Versagen des Staates zu tun.

Verschwörungstheorien zirkulieren global, doch in Rumänien scheinen sie besonders viel Zuspruch zu haben. Warum?

Fast 70 Prozent der Rumänen glauben Umfragen zufolge an den Teufel, der Verschwörungen anzettelt. Die Vorstellung, dass es eine teuflische Konspiration gegen uns gibt, die die Welt kontrollieren will, passt also absolut ins mentale Universum vieler Rumänen. Die Schulbildung hat hier nur wenig Einfluss. Im Gegenteil, Religion spielt in der Schule eine viel stärkere Rolle als die Wissenschaft. Im Religionsschulbuch für die erste Klasse wird Kindern erklärt, dass sie nicht artig waren, wenn sie krank werden und der Herrgott sie auf diese Weise bestraft. Eine solche Erziehung macht schon Kinder für Verschwörungstheorien anfällig.

In der rumänischen Gesellschaft wird gerade intensiv diskutiert, wer die moralische Schuld an den vielen Corona-Toten trägt?

Die Regierung trägt eindeutig die Schuld. Die Impfkampagne ist zu Jahresbeginn sehr gut gestartet, doch sie wurde nicht am Laufen gehalten. Der bisherige Premier Florin Citua hatte im Mai die dritte Corona-Welle im Land für beendet erklärt und die schrittweise Aufhebung der Schutzmaßnahmen angekündigt. Warum sollten sich die Leute dann noch impfen lassen? Die Impfquote sackte wenig deutlich später ab. Die Konsequenzen haben wir jetzt alle zu tragen. Die Regierenden propagieren die Gesundheit als individuelle Angelegenheit. Doch die Rolle des Staates ist es, die öffentliche Gesundheit zu sichern. Unser Staat hat hier versagt. Jetzt haben wir täglich Hunderte Corona-Tote, deren Tod hätte verhindert werden können.

Es sind täglich erschreckende Meldungen aus Rumänien zu hören, wie das Gesundheitssystem kollabiert. Wie erleben Sie die Lage?

Unser Gesundheitssystem ist völlig überfordert. Es gibt keine Kapazitäten mehr, um Patienten aufzunehmen. Die Leute sterben, weil sie kein Beatmungsgerät mehr bekommen. Und selbst wenn wir jetzt mit Hilfe der EU die Geräte und Intensivbetten aufstocken können, es gibt nicht mehr medizinisches Personal, als wir jetzt haben. Die Ärzte müssen in den Krankenhäusern längst eine Triage vornehmen, die Situation ist schlimmer als in Italien im vorigen Frühjahr. Diese Lage wird noch Wochen weitergehen, auch weil die Politik bislang kaum Maßnahmen dagegen ergriffen hat.

Politologe Cristian Pirvulescu, Bukarest
Der Bukarester Politikexperte Cristian Pirvulescu. Bildrechte: MDR/Annett Müller

Rumänien hat in seiner schwersten Gesundheitskrise gerade keine Regierung. Was bedeutet das für das Land?

Wir sitzen in einem Boot, das orientierungslos ist. Wenn wir eine Abstimmung von Maßnahmen im Parlament hätten, wäre die Regierungskrise kein Problem. Doch bislang ist hiervon nichts zu spüren. Das Parlament müsste jetzt beispielsweise dringend über ein Gesetzesprojekt zur Impfpflicht von medizinischem Personal beraten, um die Sicherheit in den Krankenhäusern zu erhöhen. Frankreich hat eine solche Regelung bereits im September erlassen. Bei uns wird das schwierig. Ich gehe davon aus, dass unser Parlament eine solche Maßnahme nicht billigen wird. Es gibt in den Reihen der beiden größten Parteien, der regierenden liberalen PNL und der oppositionellen sozialdemokratischen PSD, viele Impfgegner. Zudem haben sie Angst, Wählerstimmen an die rechtspopulistische AUR-Partei zu verlieren, die in den vergangenen Monaten gerade bei den Impfgegnern enorm punkten konnte.

Welche Befugnisse hat Präsident Klaus Iohannis, wie kann er jetzt eingreifen?

Den Notstand, den wir zu Beginn der Pandemie im vorigen Jahr hatten, kann er derzeit nicht ausrufen, da dieser von einer Regierung vorgeschlagen werden und im Parlament gebilligt werden müsste. Doch eine Regierung gibt es gerade nicht. Dennoch trägt Staatspräsident Klaus Iohannis gerade eine enorme Verantwortung. Von ihm hängt ab, ob wir eine schnelle Lösung für eine Regierungsbildung bekommen. Wir brauchen nicht irgendeine Regierung, sondern eine, die das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen kann. Andernfalls schlittern wir in eine noch gravierendere Krise.

Ihre Fakultät an der Nationalen Universität für Politikwissenschaft und öffentliche Verwaltung hat eine Impfquote von 95 Prozent erreicht. Wie haben Sie das geschafft?

Das war ganz einfach. Das Personal durfte wählen, ob es sich impfen lässt oder nicht. Wer ungeimpft ist, darf nur Online-Kurse abhalten, die mit einem Gehaltsverlust von gut 30 Prozent verbunden sind. Die Mehrheit hat sich daraufhin für die Impfung entschieden. Hinzu kommt, viele von uns sind von der Wirksamkeit der Impfstoffe überzeugt.

Teil-Lockdown für Ungeimpfte Ab Montag (24. Oktober) ist in Rumänien, das allgemeine Tragen von Gesichtsmasken wieder verpflichtend, nicht nur in Innenräumen sondern auch auf den Straßen. Nachts darf nur noch das Haus verlassen, wer geimpft ist. Die Teilnahme an zahlreichen Aktivitäten soll künftig nur noch jenen erlaubt werden, die einen Impfpass haben. Den Schulen wurde eine zweiwöchige Pause verordnet. Rumänien ist derzeit als Hochrisikiogebiet eingestuft.

Stand: 22. Oktober 2021

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 23. Oktober 2021 | 07:17 Uhr

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