Systemfehler Brandgefährlich: Illegale Altenheime in Russland

25. Januar 2021, 18:47 Uhr

In Russland kommt es immer wieder zu Bränden in Senioreneinrichtungen. Viele Altenheime arbeiten ohne Lizenz. Die jüngste Katastrophe offenbart deutlich, dass es sich um ein Systemversagen handelt.

Fotomontage Mann vor Fahne
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Noch immer kann es Jewgenij nicht begreifen. Es war sein erster Arbeitstag bei einem kleinen Metallhändler im sibirischen Städtchen Borowskij, gleich nach dem christlich-orthodoxen Weihnachtfest in Russland. Kaum auf Arbeit angekommen, sah er dunkle Rauchschwaden vom Hof gegenüber aufsteigen. "Wir sind gleich mit anderen Kollegen und Nachbarn rüber, die Hausbesitzerin war schon draußen und sagte im Haus seien zwei ältere Damen, die wir übers Fenster gerettet haben", berichtet der Russe wenige Tage später einem Lokalblatt. "Hätte sie gesagt, dass noch weitere Menschen drin sind, hätten wir auch sie retten können".

Sieben Tote

Der Brand, der am 9. Januar als ein kleiner Zwischenfall begann, erschütterte am Ende ganz Russland. Sieben Tote hatten die anrückenden Rettungskräfte später in dem Unglückshaus gefunden. Drei Männer und vier Frauen im Alter zwischen 63 und 81 Jahre erstickten an den Rauchgasen, während die ahnungslosen Feuerwehrmänner die brennenden Nutzbauten im Hof löschten. Auch ein weiterer Augenzeuge und ein Mitarbeiter des Rettungsdienstes bestätigten später, die Hausbesitzerhin Olga Wiljamson habe versichert, dass ihr Haus leer sei.

Mittlerweile sitzt Wiljamson in Untersuchungshaft, während die Behörden einem schrecklichen Verdacht nachgehen. Die Russin hatte in ihrem Wohnhaus offenbar ein privates Altersheim betrieben, ohne offizielle Lizenz und staatliche Anmeldung. Dies bestätigen auch Angehörige der Opfer, die für die Unterkunft ihrer Verwandten umgerechnet knapp 350 Euro monatlich an die Betreiberin zahlten. "Eine andere Erklärung, außer der Angst aufzufliegen, lässt sich für ihr Handeln während des Brandes kaum finden", schrieb etwa die staatliche Rossijskaja Gazette vor wenigen Tagen.

Eine Serie von Unglücken

Der Fall sorgte für Aufsehen auf höchster Ebene in Russland. Der Chef des Föderalen Ermittlungskomitees Alexander Bastrykin versprach, die Untersuchung persönlich zu beaufsichtigen.  Ähnlich äußerte sich der Gouverneur der betroffenen Region Tjumen und versprach die "Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen".

Doch während die Behörden nun schnelle Aufklärung versprechen, lenkt der jüngste Brand das Schlaglicht auf eine ganze Serie von Unglücken, die sich in ähnlichen Einrichtungen ereignet haben. Erst im Dezember 2020 brannte in einem Dorf in Baschkirien ein Seniorenheim ab. Damals starben elf Senioren im Alter zwischen 57 und 80 Jahren. Im Mai 2020 hatte ein Kurzschluss in einer maroden Leitung ein Feuer in einem Heim in Krasnogorsk bei Moskau entfacht. Damals starben neun Menschen, neun weitere kamen ins Krankenhaus. Im April des gleichen Jahres führte ein defekter Kessel zu einem Brand in einem Moskauer Seniorenhaus. Dabei starben fünf teils bettlägerige Menschen.

Hygiene und Brandschutz werden nicht geprüft

Die Gemeinsamkeit bei diesen Fällen besteht nicht nur darin, dass die Opfer hilfsbedürftige, ältere Menschen waren. Vielmehr handelt es sich ausnahmslos um kleinere private Anstalten, die ihre Dienstleitungen ohne Lizenz und ohne staatliche Anmeldungen ausgeübt haben. In den allermeisten Fällen erfahren die Behörden erst von der Existenz solcher Anstalten, wenn es zu Unfällen kommt. Das bedeutet wiederum, dass Brandschutz, sanitäre und hygienische Normen nur in den seltensten Fällen geprüft werden können. Ähnlich war es auch im Fall des abgebrannten Seniorenheims im sibirischen Borowskij. "Zum aktuellen Zeitpunkt war das Gebäude als privates Wohnhaus gemeldet", heißt es aus der Verwaltung der Ortschaft. Die Tragödie sei ein Schock für alle gewesen. Das deckt sich auch mit den Angaben aus dem föderalen Immobilien-Register Rosrejestr.

Allein im Moskauer Umland könnte es nach Ansicht von Alexej Sidnew, Chef der privaten Seniorenheimkette Senior Group bis zu 600 solcher halblegalen Einrichtungen geben. Im ganzen Land könne es sich um bis zu 30.000 Betten handeln. Tatsächlich lässt sich die genaue Zahl kaum schätzen. Dass das Problem System hat, haben mittlerweile auch die Moskauer Behörden erkannt. "Zuletzt haben sich Brände in privaten Altersheimen gehäuft", erklärte vor wenigen Tage der Vizeminister für Katastrophenschutz Anatoli Suprunowskij. "Oft wird dabei keine Rücksicht auf Brandschutzbestimmungen genommen". Fehlende Feuermelder, ungeschultes und fahrlässiges Personal, Räume, in denen die Bewohner oft zu zwei oder zu dritt hausen, sind nur ein Teil des Problems.

Unhaltbare Zustände, kaum Kontrollen

Für Branchenexperten liegt die Ursache auf der Hand. "Es gibt kein verpflichtendes Lizensierungsverfahren für private Altersheime. Die Anmeldung ist freiwillig", erklärt Elizaweta Oleskina, Leiterin der Stiftung "Alter im Glück". "Sie müssen niemanden in Kenntnis setzen, wenn sie ein Wohnhaus mieten, einen Koch und ein paar Pflegerinnen anheuern und Werbung im Netz schalten", erklärt Oleskina. Eine einfache Gewerbeanmeldung als Herberge reicht aus, doch auch hier sind die Strafen bei fehlender Anmeldung nicht höher als umgerechnet 60 Euro. Für die Behörden seien solche Einrichtungen daher so gut wie unsichtbar, weshalb es auch kaum Überprüfungen gibt.

Das führt nicht selten zu unhaltbaren Zuständen in solchen Einrichtungen. Der letzte größere Skandal ist nur gut ein Jahr her. Damals war die Staatsanwaltschaft in der Region Tscheljabinsk bei Ermittlungen auf ein privates Altenheim gestoßen, dessen 54 Bewohner allesamt in ein Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Nach Auskunft der Behörden wurden sie über Monate mit Medikamenten ruhig gestellt, während die Wohnräume voller Dreck und Ungeziefer waren.

Fehlende Kontrollen und ein Mangel an staatlichen Einrichtungen

Doch nicht nur die fehlenden Kontrollen sind ein Problem, sondern auch der Mangel an staatlich lizensierten, bezahlbaren Einrichtungen. Laut Experte Sidnew summieren sich die Kosten für einen Platz im Altenheim nach allen geltenden Standards auf umgerechnet 1.000 bis 1.300 Euro pro Monat. Das ist selbst für das wohlhabende Moskau eine immense Summe. Die durchschnittliche Rente in der russischen Hauptstadt liegt bei umgerechnet etwa 300 Euro im Monat. In den günstigsten privaten Anstalten fangen die Preise dagegen bereits bei 350 Euro im Monat an. Nach Angaben des russischen Vereins "Welt der älteren Generation" braucht das Land derzeit mindestens 630.000 Plätze in Altenheimen, während es auf dem Markt nur 280.000 Plätze in staatlichen und lizensierten privaten Einrichtungen gibt.

Der jüngste Brand im sibirischen Städtchen Borowskij könnte nun zumindest endlich wichtige Gesetzesänderungen ins Rollen bringen. Erste Forderungen nach einer verpflichtenden Registrierung und Lizenzierung von privaten Seniorenanstalten sind bereits im russischen Föderationsrat laut geworden, schreibt etwa die offizielle Zeitung des russischen Parlaments "Parlamentskaja Gazeta". Über eine Gesetzesänderung werde nun beraten.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 13. Januar 2021 | 18:00 Uhr

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