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Russlands Präsident Wladimir Putin im Gespräch mit Vertretern der jüdischen Community. Putin selbst gilt nicht als Antisemit, doch die nationalistische Rethorik, die seit Beginn des Ukraine-Krieges in Russland Überhand nimmt, facht den Antisemitismus nach Einschätzung des jüdisch-russischen Politikers Leonid Gozman an. Bildrechte: IMAGO/ZUMA Wire

RusslandRussland: Der Antisemitismus nimmt im Ukraine-Krieg zu

10. Mai 2023, 09:10 Uhr

Offiziellen Verlautbarungen des Kremls zufolge gibt es in Russland keinen Antisemitismus. Angehörige der jüdischen Gemeinden empfinden das aber anders. Viele haben das Land verlassen oder wollen es tun. Unterdessen wird das Judentum in russischen Propaganda-Talkshows bisweilen mit dem Faschismus gleichgesetzt.

Antisemitismus stellt kein Problem in Russland dar. Dies war einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum noch 2018 die vorherrschende Meinung unter russischen Juden. 80 Prozent der Befragten gaben sogar an, dass das Ausmaß des Antisemitismus im Vergleich zur Sowjetzeit zurückgegangen sei. 2019 erklärte der Präsident des Russischen Jüdischen Kongresses, Juri Kanner, das Problem des Antisemitismus sei für Russland irrelevant.

Musste Russland verlassen: der Oberrabbiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt. Bildrechte: IMAGO / Sven Simon

Nur vier Jahre später ist die Stimmung ganz anders. Der Oberrabbiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt, sagte in einem Interview mit "The Guardian", der Antisemitismus in Russland habe zugenommen. Er forderte Juden auf, zu emigrieren. Er selbst musste Russland verlassen, nachdem er sich geweigert hatte, den Krieg gegen die Ukraine öffentlich zu unterstützen. Goldschmidt zufolge sind zwischen 25 und 30 Prozent der Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Russland bereits ausgereist oder beabsichtigen, dies zu tun. Laut Jewish Agency sind 2022 fast 38.000 Juden aus Russland nach Israel ausgewandert.

Der Antisemitismus ist in Russland zurück

Der russische Oppositionspolitiker Leonid Gozman hat diese Entwicklung hautnah miterlebt. Der in der Sowjetunion aufgewachsene Politiker hat schon zu seiner Schulzeit den so genannten "alltäglichen Antisemitismus" erlebt. Aber, wie er selbst sagt, hat er gelernt, damit zu leben und nahm ihn bis Anfang der 2000er-Jahre nicht als ernsthaftes Problem wahr. Denn dieses Phänomen sei nur in sozialen Randgruppen willkommen und weit verbreitet gewesen. In den intellektuellen Kreisen, in denen er sich bewege, sei es kein Thema gewesen.

"Was den staatlichen Antisemitismus anbelangt, also vom Staat geduldeten, so war er bis vor kurzem praktisch nicht existent. Und ich war so naiv zu glauben, dass es ihn nie geben würde", sagt Gozman, der bereits für zwei Wochen in Haft musste, weil er die russischen Behörden nicht informiert haben soll, dass er neben dem russischen auch einen israelischen Pass besitzt. Gozman wurde zudem zum "ausländischen Agenten" erklärt und sah sich gezwungen, Russland ebenfalls zu verlassen.

Ein Bild aus "guten alten Zeiten": Russlands Präsident Putin und Israels Premierminister Netanjahu gelten als Freunde. Doch nun erwägt Israel, die Ukraine zu unterstützen. Bildrechte: IMAGO / Russian Look

Die Überzeugung, dass eine Verfolgung von Juden im heutigen Russland unmöglich sei, beruhte unter anderem darauf, dass Präsident Wladimir Putin selbst als nicht antisemitisch galt. Im Jahr 2014 unterzeichnete er ein Gesetz, das die Holocaust-Leugnung in Russland unter Strafe stellte. Die israelisch-russischen Beziehungen waren unter Putin besser denn je. Putin ist mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu befreundet, und auch die jüdischen Oligarchen Arkady und Boris Rottenberg gehören zu seinem engsten Freundeskreis.

Schikanen gegen jüdische Organisationen

Doch nach Ansicht von Leonid Gozman bedeuten jüdische Freunde im Umfeld von Diktatoren wie Putin gar nichts. In der Tat geht Russland inzwischen hart gegen jüdische Organisationen vor. Seit 2022 versuchen die Behörden, den russischen Ableger der Jewish Agency, die die Einwanderung von Juden aus aller Welt nach Israel unterstützt, zu schließen. Einige Politologen meinen, damit will der Kreml Druck auf Israel ausüben. Israel hat lange Zeit versucht, im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland eine vorsichtige Haltung anzunehmen. Doch in letzter Zeit signalisiert Ministerpräsident Netanjahu, dass er die Ukraine unterstützen möchte.

Wurde in Russland als "ausländischer Agent" gelistet: Putin-Kritiker und Kriegsgegner Leonid Gozman. Der Politiker besitzt die russische und die israelische Staatsbürgerschaft. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Doch das ist laut Gozman nicht die einzige Erklärung für den zunehmenden Antisemitismus in Russland. Ein weiterer Grund dafür, neben geopolitischen Spielen, ist innenpolitisch. Nach Ansicht des Politikers hat sich Russland in einen faschistischen Staat verwandelt – der Ukraine-Krieg habe diese Entwicklung besiegelt. Ein solcher Staat könne gar nicht anders, als sich der Idee einer nationalen Exklusivität zu bedienen.

Zur Ideologie der nationalen Selbstgefälligkeit gehören ethnische Vorurteile und Antiintellektualismus, meint Gozman. Das stereotype Bild des Juden in der russischen Kultur sei das eines klugen Menschen. Und so führe Putins Ideologie unweigerlich zu Antisemitismus. Der "alltägliche Antisemitismus", der wie Lava unter einer dünnen Kruste in der russischen Gesellschaft brodelte, sei nun mit dem Antisemitismus auf staatlicher Ebene verschmolzen, so Gozman.

Ideologie der überlegenen russischen Nation

Bis jetzt spreche man in Russland zwar nicht davon, dass Russen eine überlegene Rasse seien – aber sehr gern davon, dass Russen die Besten seien, merkt Gozman an. Der ehemalige Kultusminister Wladimir Medinskij habe einmal gesagt: "Unser Volk hat ein zusätzliches Chromosom". "Diese Aussage zeigt, dass die Russen nach Meinung dieser Idioten eine Art biologische Überlegenheit gegenüber allen anderen haben", stellt Gozman fest.

Pressebriefing des russischen Ablegers der Jewish Agency – die Organisation soll in Russland verboten werden, ein erster Gerichtstermin dazu fand im Oktober 2022 statt. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Judenfeindliche Exzesse und Äußerungen aus jüngerer Zeit scheinen Gozmans Diagnose, dass der Antisemitismus in Russland zunimmt, zu bestätigen. So wurde dem Chefredakteur des geschlossenen unabhängigen Radiosenders "Echo Moskwy", Alexej Wenediktow, ein Schweinekopf vor die Tür geworfen und auf die Tür "Judenschwein" geschrieben. Der russische Außenminister Sergej Lawrow behauptet, dass Hitler jüdische Wurzeln hatte und dass "die schärfsten Antisemiten in der Regel Juden" seien.

Juden als Sündenböcke im Ukraine-Krieg

Offensichtlich sucht Russland nach Sündenböcken für das Versagen der russischen Armee in der Ukraine. Neben Homosexuellen, der liberalen Intelligenz und dem "kollektiven Westen" wird nun ein weiterer Feind benötigt. Die russische Propaganda wird nicht müde, auf die jüdischen Wurzeln des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hinzuweisen, und behauptet, die pro-westliche Regierung in Kiew werde von "zionistischen Kräften" kontrolliert.

Für den russischen TV-Zuschauer ergibt sich daraus die Schlussfolgerung: Der Jude Selenskyj und seine amerikanischen "Puppenspieler" sind schuld am Tod russischer Soldaten im Ukraine-Krieg. Und die USA in Person eines weiteren Juden, des US-Außenministers Anthony Blinken, setzen "Mütterchen Russland" mit Sanktionen unter Druck und unterstützen die Mörder russischer "Retter" mit Waffen.

Antisemiten: "Jüdischer Faschismus"

Die antisemitische Rhetorik in Russland nimmt deutlich Fahrt auf und führt zu eigenartigen uns widersprüchlichen Wortverbindungen. Da ist dann beispielsweise von "jüdischem Faschismus" die Rede. "Ich bin schon mehr als einmal als jüdischer SS-Mann bezeichnet worden. Einfach weil ich ein schlechter Mensch bin, ein Russophobe, und weil ich Putin nicht mag ", ironisiert Gozman.

Russlands Antisemiten spüren laut Gozman, dass ihre Zeit gekommen ist. Seine Prognose ist düster: "Sie haben bereits die Hexenjagd auf LGBTQ-Menschen eröffnet, auf Juden noch nicht.  Aber ein harter Antisemitismus und sogar Pogrome sind unvermeidlich. Und ich bin mir nicht sicher, ob Putin das aufhalten könnte, selbst wenn er es wollte."

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Heute im Osten – Osteuropa-Podcast | 13. Mai 2023 | 07:17 Uhr