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Rekruten aus der russischen Region Swerdlowsk brechen vom Bahnhof Jegorschino zum Militärdienst auf. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Ukraine-KriegRussland: In Putins Armee beginnt es zu brodeln

23. November 2022, 13:30 Uhr

Russische Rekruten klagen immer häufiger über Missstände in der Armee. Ihre Handyvideos und Hilferufe werden tausendfach im Netz geteilt. Auch bei den Frauen und Verwandten zu Hause wächst mit der Verzweiflung der Mut zum Protest.

von Maxim Kireev, Ostblogger Russland

Seit einigen Tagen hat die russische Armee einen neuen Helden. Sein Name ist Alexander Leschkow. Erst vor wenigen Wochen wurde er zum Militärdienst eingezogen. Kürzlich erlangte Leschkow vor allem unter anderen Soldaten blitzschnelle Berühmtheit, als im Internet ein Video des groß gewachsenen Russen zu kursieren begann. Aufnahmen, die Russlands staatliche Propaganda gewiss nicht ausstrahlen wird, denn darauf ist Leschkow nicht etwa bei seinem heldenhaften Einsatz in der Ukraine, beim Zerstören von schwerem Gerät oder beim Retten von Kameraden zu sehen. Stattdessen zeigt es eine Szene, die sich vor Kurzem im Trainingszentrum im berühmten Militär-Erlebnispark "Patriot" nahe Moskau abgespielt hat. 

Auf den Aufnahmen ist zu sehen, wie Rekruten wütend und verzweifelt einige höherrangige Militärs zur Rede stellen. Die Männer klagen über minderwertige Schutzwesten, fehlende Schießeinheiten und sinnlose Marschübungen. Ihr Anführer dabei: Alexander Leschkow, der den zuständigen Oberst abkanzelt bis die Situation eskaliert. "Ich werde zu euch ins Quartier kommen und euch die Gliedmaßen brechen, wenn ihr unsere Fragen nicht beantwortet", wütet Leschkow, während umstehende Rekruten ihn ermuntern. Als eine Rangelei beginnt, reißt das Video ab.

Immer mehr Protest dringt nach draußen

Die Szene im Patriot-Park ist kein Einzelfall. Seit Wladimir Putin im September zehntausende Reservisten und Männer ohne jegliche Armee-Erfahrung zum Dienst an der Waffe mobilisieren ließ, häufen sich Beschwerden über miserable Ausrüstung, fehlende Übungseinheiten und marode Unterkünfte. Berufssoldaten und Freiwillige, die in den ersten Monaten des Krieges im Einsatz waren, äußerten Kritik selten öffentlich. Dank des riesigen Zustroms an frischem Personal in die Armee, drängen nun auch die Probleme viel schneller nach außen. 

Erst kürzlich hatte es bereits einen Aufsehen erregenden Zwischenfall in einem Übungszentrum unweit der Millionenstadt Kasan gegeben. Wie mehrere regierungskritische Online-Medien berichteten, klagten dort Rekruten über rostige Gewehre, mangelhafte Verpflegung und fehlendes Brennholz, um die Öfen in den Zelten zu heizen. Ein Oberst, der sich den Soldaten stellte, wurde von ihnen ausgepfiffen und beleidigt, bevor er sich am Ende in Sicherheit brachte. Rekruten hielten die Szene auf Video fest, das zunächst beim Messenger-Dienst Telegram auftauchte.

In der Großstadt Uljanowsk ist es sogar zu einem Streik von Rekruten gekommen. Private Aufnahmen, die am 1. November entstanden sind, zeigen Dutzende wütende Männer, die auf eine Frau in Militäruniform einreden. Bislang habe keiner von ihnen die versprochene Einmalzahlung für Rekruten von umgerechnet 3.200 Euro bekommen. "Sollen doch die dicken Bäuche von Einiges Russland in den Krieg ziehen", ist ein Mann im Video zu hören, das zuerst von einer Organisation verbreitet wurde, die sich eigentlich für die Rechte von Häftlingen einsetzt. Am nächsten Tag berichteten Angehörige, dass die Soldaten sich geweigert hätten, bei Schießübungen mitzumachen. Um die Wogen zu glätten, wurden die protestierenden Rekruten zumindest für einige Tage wieder nach Hause geschickt.

In einem Trainingszentrum in Tscherbakul werden Rekruten auf den Kampfeinsatz vorbereitet. Bildrechte: IMAGO / SNA

Zwar bemüht sich die staatliche Propaganda um den Eindruck, dass solche Probleme nach und nach gelöst würden. Es gibt auch zahlreiche, durchaus echt wirkende Videos von russischen Rekruten aus Trainingslagern, die den Verlauf der Vorbereitungen explizit loben. Experten glauben dennoch, dass es sich um systematische Probleme handelt.

"Die Herangehensweise an die Ausbildung in Russland, die wir sehen, ist vom Prinzip her nicht geeignet, um selbst Soldaten mit zurückliegender Kampferfahrung auf den Krieg vorzubereiten, ganz zu schweigen von Männern ohne jeglichen Bezug zur Armee", kritisiert der russische Militärexperte und Publizist Pavel Luzin. Die Rekruten seien nicht nur schlecht versorgt, sondern würden oft weniger als zwei Wochen in Trainingszentren verbringen, bevor sie an die Front kommen.

Familien wollen Männer von der Front zurückholen

Das treibt auch deren Familien um. Anfang November hatte die Russin Natalia Skwortsowa aus Tula auf ihrem Profil im russischen sozialen Netzwerk VK einen alarmierenden Video-Appell an Verteidigungsminister Sergej Schojgu hochgeladen. Darauf zu sehen sind 13 Frauen, darunter sie selbst. Sie berichten davon, wie ihre Männer "ohne Vorbereitung und ohne Waffen gegen Panzer, Drohnen und Flugzeuge an die Front geschickt worden sind". Nach nur elf Tagen im Trainingszentrum sollen sie direkt in Kämpfe verwickelt worden sein. Ihre Forderung: ein sofortiger Rückzug der Männer. Eine andere Frau aus dieser Gruppe, die nur ihren Vornamen Taissia nennt, klagt, dass die "zuständigen Generäle" gedroht hätten, die Männer zu erschießen, wenn sie sich weigern würden, direkt an die Front zu fahren.

Von ähnlichen Zuständen berichteten Ende vergangener Woche zwei andere Gruppen von Müttern und Ehefrauen aus den Städten Kursk und Woronesch, die sich auf die Suche nach ihren mobilisierten Söhnen und Männern in die russische Stadt Walujki an die ukrainische Grenze gemacht hatten. Ihre Männer seien ebenfalls ohne Ausbildung und Gerät an die Front bei Swatowo geschickt worden. In der Grenzstadt Walujki hatten die Frauen gehofft, die zuständigen Befehlshaber zu treffen, die für den Einsatz der Mobilisierten direkt an der Frontlinie verantwortlich sind. Als der Plan scheiterte, drohten sie in einer verzweifelten Videobotschaft, selbst an die Front zu fahren, um ihre Verwandten aus der Gefahrenzone zu bringen.

Zumindest dieser Protest scheint Wirkung gezeigt zu haben. Denn nach einigen Tagen schaltete sich der Gouverneur der Stadt Kursk, Roman Starowoit, ein und versprach, das Anliegen der Frauen an das Verteidigungsministerium und Wladimir Putin heranzutragen. Das oppositionelle Nachrichtenportal Sota berichtete daraufhin, dass die betroffenen Männer aus Kursk nun wieder von der Front in die Kaserne verlegt worden seien. Doch einige der protestierenden Frauen vermuten, dass die Lücke an der Front einfach durch andere Rekruten gestopft werden könnte, deren Verwandte keinen Mut finden, sich zu wehren.

Doch längst nicht immer demonstrieren die Behörden Einsicht. Weit weniger Glück hatte etwa der aufmüpfige Alexander Leschkow, der sich mit seinem Oberst angelegt hatte. Wenige Tage nachdem das Video in russischsprachigen Netzwerken viral ging, entschied ein Militärgericht in Odinzowo bei Moskau, dass Leschkow vorübergehend bis zum 13. Januar in Haft bleiben muss. Dem Russen drohen nun bis zu 15 Jahre Haft wegen Beleidigung und Körperverletzung. Zwischen den Männern soll es im Anschluss an den per Video mitgeschnittenen Streit zu einer Rangelei gekommen sein. Leschkow selbst habe nur den rauen Umgangston bestätigt, allerdings die Anwendung von Gewalt abgestritten. "Ich wollte die Aufmerksamkeit auf bestehende Probleme lenken und sprach im Namen des Kollektivs der Mobilisierten", zitiert die russische Nachrichtenagentur Tass seine Aussage.

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MDR (usc)

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 17. November 2022 | 11:08 Uhr