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InterviewRussland wirbt Häftlinge als Kämpfer für den Ukrainekrieg

19. Juli 2022, 13:29 Uhr

Die russische Menschenrechtsaktivistin und Gründerin der Stiftung Rus Sidjaschtschaja (Russland hinter Gittern), Olga Romanowa, über das Schicksal von ukrainischen Kriegsgefangenen, die Situation von Häftlingen in russischen Gefängnissen und über die Versuche der Gruppe Wagner, in Strafkolonien Kämpfer für den Ukrainekrieg zu werben.

von Daria Boll-Palievskaya

Engagiert sich für die Rechte von Gefangenen in Russland: Die Menschenrechtsaktivistin Olga Romanowa. Bildrechte: Luba Kamyrina

Frau Romanowa, sprechen wir zuerst über ukrainische Soldaten, die während des Krieges in der Ukraine von russischen Truppen festgenommen wurden. Werden sie in Russland überhaupt als Kriegsgefangene gesehen, wenn der Kreml den Krieg als "militärische Sonderoperation" bezeichnet?

Olga Romanowa: Die russische Führung wird auf das Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen hingewiesen und sagt: "Welche Kriegsgefangenen? Wir haben Leute, die mit Waffen in der Hand auf dem Gebiet der Volksrepubliken Donezk und Luhansk gefangen genommen wurden. Das sind Kriminelle, Faschisten und Bandera Anhänger." Ein sehr großer Teil von ihnen befindet sich in diesen nicht anerkannten Volksrepubliken, sodass wir keine genauen Zahlen haben. Das ist wie ein schwarzes Loch: Es ist nicht klar, was dort vor sich geht. Auf russischem Territorium befinden sich jedoch etwa 6.000 gefangene ukrainische Soldaten in Strafkolonien und Untersuchungshaftanstalten, hauptsächlich in den Regionen Rostow, Brjansk, Belgorod und Rjasan.

Zur Person:Olga Romanowa ist eine russische Journalistin und politische Aktivistin. Im Jahr 2008 gründete sie die Stiftung Rus Sidjaschtschaja, zu Deutsch „Russland hinter Gittern“, die Häftlingen und ihren Familien hilft. Ihr damaliger Ehemann wurde in diesem Jahr verhaftet. Olga selbst musste Russland jedoch bereits 2017 verlassen. Sie lebt in Berlin.

Für ihre zivilgesellschaftliche und journalistische Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, 2012 unter anderem mit dem Gerd-Bucerius-Förderpreis Freie Presse Osteuropas und 2022 von der Theodor-Heuss-Stiftung mit einer Theodor-Heuss-Medaille.

Was können Sie über das Schicksal ukrainischer Gefangener in Russland sagen?

Als Sprecherin einer großen Gruppe von Menschenrechtsorganisationen und Anwälten die in ständigem Kontakt mit der Expertengruppe für den Austausch von Kriegsgefangenen auf ukrainischer Seite steht, kann ich Folgendes feststellen:  

Ein Straflager in Russland. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Es gibt drei große Ströme von ukrainischen Bürgern, die nicht freiwillig nach Russland kommen. Erstens handelt es sich um Kriegsgefangene. Zweitens handelt es sich um Bürger, die in den sogenannten Filtrationslagern aussortiert wurden. Dies sind die Sperrstellen, die alle Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten passieren und in denen der russische Sicherheitsdienst FSB vor allem Männer auf ihre Beteiligung an den ukrainischen Streitkräften überprüft.

Hinzu kommen Zivilisten, die vor allem Anfang März in Butscha, Irpin, Gostomel, Wolnowacha und in der Region Tschernihiw entführt wurden. Über sie wissen wir mehr als über Kriegsgefangene. Außerdem kennen wir namentlich eine Gruppe von freiwilligen Helfern, 33 an der Zahl, die im Mai im Dorf Mykolska bei Mariupol entführt wurden. Sie befinden sich in der Separatistenrepublik Donezk und wurden des Terrorismus beschuldigt.

Was die entführten Zivilisten betrifft, die nach Russland gebracht wurden, so ist nicht bekannt, aus welchen Gründen dies geschah und was man ihnen vorwirft. Anwälte werden zu ihnen nicht zugelassen.

Zu welchem Zweck werden sie, wie Sie sagen, entführt und nach Russland gebracht?

Die Ziele ändern sich im Laufe der Zeit. Zunächst wurden sie entführt, um gegen russische Kriegsgefangene ausgetauscht zu werden. Ein solcher Austausch fand im April statt. Danach stellte sich jedoch heraus, dass diejenigen, die in die Ukraine zurückgekehrt waren, ihre Geschichten erzählten und öffentlich machten. Wir waren sehr besorgt, was mit denjenigen geschehen würde, die nicht ausgetauscht wurden. Schließlich waren sie offiziell nicht in Russland und wurden für den Austausch nicht mehr benötigt. Wir hatten Angst, dass wir sie nie wiedersehen würden.

Bildrechte: Ekaterina Rerberg

Nun hat sich die russische Seite offensichtlich einen neuen Weg überlegt: Man bietet ihnen an, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen und einen Vertrag über die Zusammenarbeit mit dem FSB zu unterzeichnen. Wir sind der Meinung, dass sie es tun sollten, denn wer kann es ihnen verdenken. Hauptsache, sie kehren lebend nach Hause zurück.

Das Medienprojekt "Wichtige Geschichten", das von unabhängigen Journalisten ins Leben gerufen wurde, hat aufgedeckt, dass Insassen St. Petersburger Strafkolonien als "Freiwillige" für den Krieg rekrutiert werden. Wie funktioniert dieses System?

An dieser Geschichte haben sehr viele Menschen gearbeitet. Allerdings bin ich die Einzige, die in Sicherheit ist, deshalb bin ich diejenige, die spricht und kann meine Kollegen und Kolleginnen nicht nennen.

Gleich zu Beginn des Krieges fand eine solche Rekrutierungsaktion in den sogenannten Kolonien zur "sicheren Verwahrung ehemaliger Strafverfolgungsbeamter" statt. Das heißt, es ging zuerst um Menschen mit militärischer Erfahrung, die mit Waffen umgehen können. Diese Rekrutierung endete mit einem völligen Fiasko. Diese Ex-Offiziere wissen nur zu gut über den Krieg Bescheid und hatten wenig Lust, in die Ukraine zu gehen. Dann gab es eine große Aktion, von der fast nichts bekannt ist. Aber unter den Toten des tschetschenischen Bataillons, das in der Ukraine kämpft, wurden mehrere Personen identifiziert, die eigentlich im Gefängnis hätten sitzen sollen.

Die Kantine in einem russischen Straflager. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Offenbar ist nun eine dritte Rekrutierungswelle im Gange. Die Anwerbung führt die berühmt-berüchtigte Gruppe "Wagner" durch. Das ist ein privates Sicherheits- und Militärunternehmen (PMC), das heißt, nicht der Staat ist hier tätig. (Die Gruppe Wagner hat für Russland in zahlreichen Auslandseinsätzen, u.a. in Syrien und ab 2014 im Donbass gekämpft. Ihr werden Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Informationen des BND zufolge kämpfen in ihren Reihen zahlreiche Neonazis. – d. Red.)

Die Gefängnisleitung sagt: "Du kommst erst auf Bewährung frei, wenn du einen Job hast. Und wer wird Dich schon einstellen? Oh, was für ein Zufall, ein privates Unternehmen ist hier und sucht Mitarbeiter. Hast Du Lust auf einen Job? Zum Beispiel auf den Wiederaufbau der Infrastruktur in der Ukraine? Du wirst gutes Geld verdienen." Für sechs Monate Dienst wird dem "Freiwilligen" eine einmalige Zahlung von 200.000 Rubel (nach aktuellem Kurs etwas weniger als 3.500 Euro – d. Red.) versprochen, nach der Rückkehr nach Hause wird sein Strafregister gelöscht. Und im Todesfall bekommen die Angehörigen 5 Millionen Rubel (rund 85.000 Euro – d. Red.).

Wie viele Rekruten aus den Strafkolonien wurden denn von Russland in den Krieg geschickt? Lässt sich das beziffern?

Rechtlich gesehen kann man nicht sagen, dass die Gefangenen aus den Kolonien in den Kampf geschickt werden. Sie werden auf Bewährung entlassen und gehen "zur Arbeit". Es ist quasi ihre persönliche Entscheidung. Allein im Juli und in einer einzigen Kolonie können wir mit Sicherheit von 60 solchen Fällen sprechen. Wir sind im ständigen Kontakt mit Angehörigen, die sich von Gefangenen verabschieden, die in den Krieg ziehen. Wir haben Informationen aus dem Leningrader Gebiet, aus der Kolonie bei Nischni Nowgorod und aus der Region Wladimir.

Dagegen erklärte Alexander Cholodow, der Leiter der St. Petersburger Kommission für öffentliche Aufsicht, am 7. Juli unter Berufung auf den Föderalen Strafvollzugsdienst, dass nichts dergleichen geschehe. Er lügt wie gedruckt.

Im vergangenen Jahr deckten Menschenrechtsaktivisten einen Skandal auf, in den der Föderale Strafvollzugsdienst verwickelt war: Es ging um sexuellen Missbrauch in Haftanstalten, belegt durch 40 Gigabyte Videomaterial. In einem Gefängniskrankenhaus in Saratow wurden Menschen wie am Fließband gefoltert. Die Staatduma reagierte und verabschiedete ein Gesetz, das für Folter eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren vorsieht. Was hat das gebracht?

Ich befürchte, dass dies ein völlig undurchführbarer Paragraf des Strafgesetzbuches sein wird. Denn der enthält nicht einmal eine Definition, was Folter ist. Außerdem sind es nicht die Mitarbeiter selbst, die foltern. Sie lassen es die Gefangenen erledigen. Somit kann dies als Konflikt zwischen Häftlingen und als "Körperverletzung" bezeichnet werden.

Hat die Rechte von Häftlingen gestärkt: Die russische Duma. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Die Menschenrechtsorganisation, die sich mit der öffentlichen Aufklärung von Fällen von Folter beschäftigte, wurde erneut aufgelöst. (Das "Komitee gegen Folter" wurde von den Behörden zum "ausländischen Agenten" erklärt. In der Folge löste es sich auf und gründete sich neu. – d. Red.) Die Statistiken sind weiterhin sehr deprimierend, und die laufenden Inspektionen bleiben meist "ergebnislos". Dank unserer Kolleginnen von der NGO "Für Menschenrechte" sind zumindest Untersuchungen über Folter in einer Kolonie in Irkutsk in Gang gekommen.

Es ist also weniger eine Frage der Rechtsgrundlage als der Umsetzung?

Wir haben viele gute Paragrafen im russischen Strafgesetzbuch, zum Beispiel für Richter, die wissentlich ungerechte Urteile verhängen. Kein einziger Richter wurde danach verurteilt. Gleichzeitig sagen wir, dass etwa 200.000 Menschen in Russland unschuldig verurteilt worden sind.

Die Statistiken über Strafgefangene in Russland werden aber von Jahr zu Jahr besser, insgesamt befinden sich nur noch 600.000 Menschen in russischen Gefängnissen.

Tatsächlich hat sich die Zahl der Gefangenen in den letzten 20 Jahren halbiert. Dies geschah durch die Entkriminalisierung bestimmter Straftaten. Das ist eine positive Entwicklung, würden Sie sagen. Aber zum Beispiel wurde häusliche Gewalt entkriminalisiert. Darüber hinaus hat das Gesetz von 2017 die Arbeitspflicht "als Ersatz für den nicht verbüßten Teil der Freiheitsstrafe" eingeführt. Tatsache ist aber, dass diese Menschen in gesundheitsschädlichen Industrien arbeiten und unter Bedingungen leben, die sich kaum von denen in Gefängnissen unterscheiden.

Dennoch wird das System menschlicher. Das russische Justizministerium hat soeben neue Regeln für Strafgefangene und Häftlinge verabschiedet. Die Gefangenen dürfen nun auch vom Arzt verschriebene Medikamente kaufen und behalten und sich tagsüber auf ihr Bett legen. Die Unterbrechung des Nachtschlafs wird untersagt, E-Books werden erlaubt.

Russische Häftlinge bei der Arbeit. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Außerdem dürfen schwangere Frauen und Frauen mit Kindern jeden Tag duschen! Na großartig! Aber wenn Sie die Regeln genau lesen, werden Sie eine kleine Klausel finden: "wenn möglich". Diese Klausel setzt alle Innovationen außer Kraft. Nochmals: Unsere Gesetze sind wunderbar! Allerdings leben wir nach dem Paradigma: "Für die Freunde alles, für die Feinde das Gesetz".

Die Mitarbeiter Ihrer Stiftung leben in Russland. Bringen sie sich in Gefahr?

Alle unsere Mitarbeiter haben auf die eine oder andere Weise Gefängniserfahrung, entweder saßen sie selbst ein oder ihre nahen Verwandten. Sie sind schwer zu erschrecken. Seit Beginn des Krieges sage ich ihnen ständig, dass ich persönlich für ihre Evakuierung in ein Drittland sorge, wenn etwas passiert. Aber keiner will gehen. Und wohin sollen sie gehen, wenn Menschen, die ihnen nahestehen, im Gefängnis sitzen? 

Wir haben das Gespräch mit Frau Romanowa für bessere Lesbarkeit redigiert und gekürzt.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 18. Juli 2022 | 19:30 Uhr