Interview Russland: "Heucheln, Gehorsam vortäuschen und ausweichen"

01. September 2022, 05:16 Uhr

Еkaterina Schulmann ist eine der bekanntesten Politikwissenschaftlerin Russlands, ihre You-Tube-Videos, die inzwischen im Exil in Berlin entstehen, werden millionenfach geklickt. Im Interview spricht sie über die Stimmung in der russischen Gesellschaft und das Abdriften ihres Heimatlandes in den Totalitarismus.

Daria Boll-Palievskaya
Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

Portrait Ekaterina Schulmann
Eine russische Intellektuelle im deutschen Exil: Ekaterina Schulmann Bildrechte: Robert Bosch Academy

Frau Schulmann, Sie sind eine von vielen russischen Intellektuellen, die Russland verlassen haben. Ist es Ihrer Ansicht nach eine gezielte Strategie Putins und seines Machtapparates, die intellektuelle Elite aus dem Land zu verdrängen?

Ekaterina Schulmann: Zweifelsohne. Ich sehe eine konsequente Politik, Menschen, die nicht in das aktuelle ideologische Gerüst passen, zur Auswanderung zu bewegen. Die Menschen werden auf verschiedene Weise eingeschüchtert, gleichzeitig wird manchen ein Zeitfenster gelassen, damit sie gehen können. Ein Ermittler sagte Ilya Jaschin (einer der wenigen Oppositionspolitiker, die den Krieg gegen die Ukraine kritisieren und doch in Russland bleiben; gegen ihn wurde im Juli ein Strafverfahren eingeleitet – Red.) ins Gesicht: "Warum haben Sie das Land nicht verlassen? Wir haben Ihnen doch ziemlich eindeutige Zeichen gegeben." Jaschin blieb und zahlt dafür einen hohen Preis. Hinzukommt, dass diejenigen, die in Russland bleiben, kaum etwas sagen können.

Zur Person: Еkaterina Schulmann ist u.a. außerordentliche Professorin an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und hatte ihre eigene Sendung beim unabhängigen Radio Echo Moskwy, bis der Sender Anfang März schließen musste. Sie gehörte dem Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten an, bis sie 2019 zusammen mit einigen anderen Mitgliedern ihres Postens enthoben wurde. Inzwischen wurde sie in ihrer Heimat zur "ausländischen Agentin" erklärt und ist seit Anfang April Fellow der Robert-Bosch-Stiftung in Berlin.

Gibt es in Russland aktuell Proteste? Einige Experten sprechen von einer "stillen Résistance".

Heucheln, Gehorsam vortäuschen und ausweichen – das sind die Werkzeuge des "Protests der Schwachen". Der Sowjetmensch hat das sein ganzes Leben lang getan, allerdings nicht, um zu protestieren, sondern um zu überleben. Diese Taktiken sind ihm also bestens vertraut. Im heutigen Russland sehen wir einen Mangel an Initiative: ehrenamtliches Engagement, wie es beispielsweise 2014 (nach der Krim- Annexion – d. Red.) vielfältig entstanden war, gibt es nicht. Es bleibt die Frage: Handelt es sich um eine Form des stillen Protests oder verringern die Menschen ihre Risiken dadurch, dass sie der Obrigkeit vorsichtig den Rücken kehren? Auffällig ist auch, dass niemand freiwillig in die Ukraine geht, weder als Militär noch als Zivilbeschäftigter. Auch wenn man dafür viel Geld bekommen kann.

Wir beobachten auch Signale unter Gleichgesinnten wie das öffentliche Zeigen von drei und fünf Sternen (Sie stehen in Rusland für ein "Nein zum Krieg" – d. Red). Darüber könnte man sich natürlich amüsieren, weil es die politischen Entscheidungen in keiner Weise beeinflussen kann. Es ist aber ein klares Zeichen an die eigenen Leute: "Seht her, ihr seid nicht allein." Es handelt sich also nicht um einen Protest, sondern um eine Form der Selbstidentifikation und ein Signal: Selbst, wenn man nur versteht, was diese Sterne bedeuten, ist man bereits Teil einer bestimmten Gemeinschaft, fast schon ein Verschwörer. Doch das Gemeinschaftsgefühl will ein autoritärer Staat für sich monopolisieren. Jeder, der den Machtapparat kritisiert, soll denken, dass er allein ist. Eine "Mehrheit" zu schaffen und dann allen anderen das Gefühl zu geben, sie seien eine winzige Minderheit, ist die wirksamste Technik der Informationsautokratie.

Sie vertraten bisher immer die These, dass Russland keine Diktatur ist, sondern ein sogenanntes hybrides Regime, also eine Autokratie, die gewisse demokratische Elemente vortäuscht. Warum?

Der Unterschied zwischen einem autoritären und totalitären politischen Modell besteht vor allem darin, dass autoritäre Regime auf die Passivität der Bürger setzen, während totalitäre Regime auf Partizipation setzen, was paradoxerweise auch für Demokratien gilt. In einer Demokratie ist die Beteiligung allerdings freiwillig und vielfältig, während die Teilnahme in einem totalitatären Regime obligatorisch ist und Nichtteilnahme unter Strafe steht.

Aber ist es nicht so, dass Russlands Entwicklung in den letzten Monaten stark totalitäre Züge aufweist?

Soldatenmütter Russland
Protest unerwünscht: Eine Kriegsgegnerin wird in Moskau verhaftet. Bildrechte: IMAGO / SNA

Aktuell sehen wir Versuche des politischen Apparats Russlands, sich zu "totalisieren". Die Bürger werden aufgefordert, sich in bestimmten Posen fotografieren zu lassen oder den Buchstaben "Z", der für "militärische Sonderoperation steht", in ihre Fenster zu hängen. Es gibt bis jetzt dafür jedoch weder Belohnungen noch Strafen, wenn man dies nicht tut. Darüber hinaus gibt es Versuche, die Bildung zu ideologisieren, was ebenfalls ein Merkmal des Totalitarismus ist. Erst im Juli wurde eine Kinder- und Jugendorganisation ganz nach dem Vorbild der sowjetischen Pionierorganisation gegründet, die vom Präsidenten selbst geleitet wird. Dies sind eindeutige Anzeichen für die Schaffung eines einheitlichen ideologischen Rahmens für das Bildungssystem. Ob eine Autokratie, die jahrzehntelang auf Nichtbeteiligung setzte, einen solchen Sprung machen und zu einem totalitären Staat werden kann, ist noch unklar. Ähnliches passierte im Iran - auf den Ruinen der autoritären Monarchie wurde ein totalitäres ideologisches Regime - eine Theokratie - errichtet. Aber das geschah durch eine Revolution, die vor allem von jungen Menschen getragen wurde. In unserem Land jedoch sind die meisten Unterstützer des Regimes 65 Jahre alt und älter.

Wie würden Sie die Repressionen charakterisieren, die in Russland derzeit stattfinden? Sind das punktuelle Verfolgungen oder eher Massenrepressionen?

Das Wort "punktuell" kann den falschen Eindruck erwecken, es handele sich um Belanglosigkeiten. Ich würde diese Repressionen als gezielt bezeichnen: Es geht hier nicht um ihre Zahl, sondern um die Zielsetzung. Gezielte Repressionen sind gegen das gerichtet, was man tut, Massenrepressionen richten sich gegen Angehörige einer Gruppe, Nationalität, Klasse usw. Gezielte Repressionen sollen also ein bestimmtes Verhalten unterbinden und Menschen einschüchtern. Das heißt, der Handelnde selbst soll an seinem Handeln gehindert werden, und andere sollen verstehen, welche Art von Handlungen bestraft werden. Darüber, dass ein Moskauer Abgeordneter zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wird, weil er sich gegen ein Kinderfest ausgesprochen hat, während in der Ukraine Kinder sterben, wird im staatlichen Fernsehen nicht berichtet. Darüber kann man nur in Telegram lesen. Aus Umfragen wissen wir, dass sich die mit der Regierung unzufriedene Öffentlichkeit über Telegram informiert. Sie sind also die Zielgruppe der Repression.

Sie sprechen oft darüber, dass sich die russische Gesellschaft durch geringes Vertrauen auszeichnet. Kann man vor diesem Hintergrund erwarten, dass sich die Menschen gegen die Regierenden solidarisieren?

Die Atomisierung (Isolierung des Einzelnen bei geringem Vertrauen in Mitmenschen und gesellschaftliche Institutionen – d. Red.) ist heute in der Tat eines der Hauptmerkmale der russischen Gesellschaft. Sie hat in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen. Die Menschen sagen, dass sie niemandem außer ihrer Familie vertrauen. Gleichzeitig pflegen sie jedoch keine guten Beziehungen zu ihren Verwandten und viele Väter beteiligen sich nicht an der Erziehung ihrer Kinder, wie man an den enormen Unterhaltsschulden sieht. Russland ist keineswegs ein Land der Familientugenden (wie die Propaganda gerne behauptet – d.  Red.), sondern ein Land mit extrem hohen Scheidungsraten, häuslicher Gewalt usw. Unter diesen Bedingungen versucht der Staat, das gesamte Vertrauenspotenzial an sich zu reißen.

Gleichzeitig ist ein sehr hoher Prozentsatz der Russen der Meinung, dass man vom Staat keine Hilfe erwarten könne und nur auf sich selbst angewiesen ist. Sie glauben nicht, dass sie die Politik ändern können. Man leidet darunter, passt sich an, aber man kann sie nicht beeinflussen. "Du wirst nichts ändern, du machst es für dich nur schlimmer", lautet eine russische Volksweisheit.

Andererseits ist es denkbar, dass die patriotische Begeisterung über die Geschehnisse in der Ukraine der Atomisierung der Gesellschaft entgegenwirken könnte. Der vorherige sogenannte Krim-Konsens - das hohe Maß an öffentlicher Zustimmung und Vertrauen in die Regierung, das im Frühjahr 2014 entstand - hielt jedoch weniger als drei Jahre an. Heute erreicht weder die Unterstützung von Putin noch das Vertrauen in ihn das Niveau von 2014.

Das einzige "Engagement" von Bürgern, das wir bisher beobachten, sind Denunziationen. Dieselben Menschen, die früher in sozialen Netzwerken Bewertungen schrieben, melden jetzt, dass ihr Nachbar gelbe und blaue Socken auf dem Balkon nebeneinander gehängt hat. Aber auch dabei schließen sich die Menschen nicht zusammen.

Die Autorin

Daria Boll-Palievskaya
Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

Daria Boll-Palievskaya ist gebürtige Moskauerin und promovierte Germanistin. Als freie Journalistin, Autorin und Trainerin für interkulturelle Kommunikation lebt sie seit vielen Jahre in Deutschland. Sie ist Redakteurin der unabhängigen Online-Zeitung russland.NEWS und schreibt u.a für die Fachzeitschrift OstContact und die Moskauer Deutsche Zeitung.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 27. August 2022 | 07:15 Uhr

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