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Bildrechte: picture alliance/dpa/TASS | Mikhail Metzel

20 Jahre Putin an der MachtPutin - Gefängniswärter und Insasse zugleich

26. März 2020, 12:05 Uhr

Vor 20 Jahren wurde Wladimir Putin erstmals Präsident von Russland. Seitdem hat er den Staat ganz auf sich ausgerichtet. Nach einer Verfassungsreform könnte er bis 2036 regieren. Trotzdem wird seine Machtfülle überschätzt, sagt Politikwissenschaftler und Osteuropaexperte Manfred Sapper.

MDR Aktuell: Herr Sapper, wenn wir uns das Russland des Jahres 2000 anschauen und es mit dem Russland von 2020 vergleichen. Wie hat sich das Land verändert?

Manfred Sapper: Es gibt nicht das eine Russland, sondern meines Erachtens mindestens drei Russlands. Das erste Russland hat sich atemberaubend verändert. Das ist das moderne, großstädtische Russland in Moskau, Sankt Petersburg und anderen Millionenstädten. Das unterscheidet sich im Positiven wie Negativen kaum von Berlin, Paris oder London. Da wird mit Plastikkarten bezahlt, konsumiert und die Leute ticken wie in anderen Weltstädten.

Das zweite Russland ist das vormoderne Russland in Zentralrussland oder Sibirien, dass durch Landflucht und Verfall gekennzeichnet ist. Da sieht es verhängnisvoll aus. Da leben bis auf wenige Ausnahmen nur noch alte Frauen und einige Alkoholiker, die von der landwirtschaftlichen Selbstversorgung leben. Das hat mit dem Moskauer oder Petersburger Russland überhaupt nichts mehr zu tun.

Und dann gibt es das antimoderne Russland: die riesigen Monobetriebe und die Rohstoffwirtschaft, die bis heute von Staatsaufträgen leben. Wenn wir uns anschauen, wovon Russland im Jahr 2020 wirtschaftlich lebt, dann ist es genau das gleiche wie im Jahr 2000 oder sogar 1980. Es ist die Tankstelle der Welt. Öl und Gas ist die zentrale Ressource, mit der der Staatshaushalt bestückt wird. In den 20 Jahren ist es Putin nicht gelungen, Russland davon zu befreien und wirtschaftlich zu modernisieren.

Manfred Sapper Bildrechte: Manfred Sapper/MDR

Zur Person: Dr. Manfred Sapper studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie in Frankfurt/Main, Siena und Moskau. Er wurde mit einer Arbeit über die Auswirkungen des Afghanistankrieges auf die Sowjetgesellschaft promoviert. Seit 2002 ist er Chefredakteur der Zeitschrift "Osteuropa".

Welchen Anteil hat die Person Putin an diesen Entwicklungen?

Seit dem Antritt Putins im Jahr 2000 hat es im Kern eine Re-Zentralisierung Russlands gegeben, bei der ein autoritärer Polizeistaat durchgedrückt wurde: unter Führung von Geheimdienstlern und mit den Methoden von Geheimdienstlern. Es wurde ganz gezielt eine gesellschaftliche Sphäre nach der anderen zerstört, die sich in den 1990er-Jahren frei entwickelt hatte.

Der erste Schritt war die Ausschaltung der freien Massenmedien, der zweite war die Ausschaltung der Oligarchen, die sich nicht loyal gegenüber der neuen politischen Führung gezeigt haben. Und der dritte ƒwar die Ausschaltung der verfassungsmäßig geregelten Gewaltenteilung, etwa bei der Justiz oder der föderalen Ordnung. Das ist während Putins Amtszeit Schritt für Schritt durchgezogen worden. Und zwar nicht als Masterplan, sondern als Reaktionen auf Chancen, die sich ihm innenpolitisch boten.

Putin wird in internationalen Medien bisweilen genau als dieser Mastermind dargestellt, der das politische Geschick Russlands und der Welt seit 20 Jahren steuert. Ist seine Rolle so herausragend?

Es gibt auf jeden Fall keinen Masterplan von 2000 bis zur Gegenwart. Und es ist völlig absurd, Putin eine Art Allmacht zuzuschreiben. Aber man muss sagen: das gesamte politische System und die Schlüsselbereiche der Wirtschaft werden heute von einer Generation bestimmt, die in der Blütephase der Sowjetunion politisch sozialisiert wurden. Das sind alles Leute der Jahrgänge 1950 bis 1955. Die haben den weltpolitischen Einfluss der Sowjetunion auf seinem Höhepunkt in den 1970er-Jahren miterlebt.

Die politische Denkweisen von damals wirken bis heute fort: die Fixierung auf die USA als Gegenspieler, die Wahrnehmung Russlands als Weltmacht und die Logik eines Staats im Belagerungszustand. Das ist geheimdienstliches und militärisches Denken. Und das ist ein Denken, dass Putin natürlich ungemein repräsentiert. Russland ist natürlich mehr als Putin. Aber in der Person Putin konzentriert sich eine ganz spezifische russische Weltwahrnehmung und Befindlichkeit.

Sie haben den erweiterten Machtapparat Putins bereits angesprochen. Welche Rolle spielt er?

Wir haben es faktisch mit ähnlichen Strukturen wie in der Sowjetunion zu tun: mit einem herausgehobenen Präsidenten mit nahezu unkontrollierter innenpolitischer Macht, der gleichzeitig relativ ohnmächtig angesichts der globalen ökonomischen und ökologischen Machtverschiebungen ist.

Dazu kommt ein ganz enges Beziehungsnetzwerk, wo die Entscheidungen getroffen werden, die genauso intransparent sind wie in der Sowjetunion: etwa im Sicherheitsrat oder informellen Verbindungen. Da setzen sich drei, vier Leute zusammen, beschließen so etwas wie die Annexion der Krim und erteilen dann den Soldaten den Befehl: "Jetzt geht’s los".

Und wir haben eine zentralistische Durchsetzung der gesamten Gesellschaft durch Zensur und die Kontrolle der Medien. Im Prinzip haben wir heute in weiten Bereichen wieder eine sowjetische Regierungspraxis, repräsentiert insbesondere durch das Militär, die Polizei, die Geheimdienste und die Justiz. Das hätte man sich im Jahr 2000, als Putin inthronisiert wurde, niemals vorstellen können.

Jahrelang wurde darüber debattiert, was Putin nach dem Ende seiner Amtszeit 2024 macht und wen er als Nachfolger installiert. Mit der geplanten Verfassungsreform könnte er nun bis 2036 durchregieren. Ist das ein Zeichen seiner Stärke oder hat er einfach keinen Nachfolger gefunden?

Es gibt keinen Putinismus ohne Putin. Deshalb bemüht sich das Regime aus Selbsterhaltungstrieb um die Verewigung seiner Herrschaftspraxis. Wenn er tatsächlich 2024 zurücktreten würde, würden politische Machtkonflikte ausbrechen. Denn in autokratischen Staaten oder Diktaturen ist die Machtübertragung eines starken Führers auf einem Nachfolger immer die heikelste Situation. Die ist in der Regel mit dem Ausbruch von Gewalt und Konflikten verbunden.

Wir neigen dazu, die Stabilität autokratischer Herrschaftsformen massiv zu überschätzen. Das haben wir am Ende der DDR und auch am Ende der Sowjetunion gesehen. Und in so eine Situation treibt Russland wieder hinein. Weil Putin sich vollkommen bewusst ist, wie stark die Herrschaft derzeit in seinen Händen zentralisiert ist, kann er überhaupt kein Interesse an einem Rücktritt haben. Er ist gleichzeitig Gefängniswärter und Gefangener seines eigenen Systems.

Was würde denn mit Russland in dem gegenwärtigen System passieren, wenn die Person Putin nicht mehr an der Macht wäre?

Faktisch haben wir jetzt erstmal eine Situation, in der noch mehr Macht im Amt des Präsidenten gebündelt wird. Es kann schon sein, dass sich in dieser Zeit wieder ein junger unbekannter Technokrat oder Geheimdienstler ohne Eigenschaften findet, der in der Lage ist, diese Funktionen in kürzester Zeit zu übernehmen. Aber ich glaube, so lange Putin lebt, wird er die Fäden sehr stark in der Hand haben. Denkbar ist vielleicht ein Modell wie in Kasachstan: dass also ein stellvertretender Herrscher offiziell agiert, die Macht aber in der Hand von Putin bleiben wird.***

Bis 2024 wird aber alles so weitergehen wie bisher. Die geplante Verfassungsänderung legt nahe, dass er es ernst meint, danach weiterzumachen. Auf absehbare Zeit wird Putin uns und den Russen also erhalten bleiben. Mit all der politischen und wirtschaftlichen Stagnation, die wir auch gerade wieder beobachten können, etwa durch die starke Abwertung der Währung und die Auswanderung junger gut ausgebildeter Russen. Und das ist keine positive Bilanz nach 20 Jahren Putin.

***In Kasachstan hat Präsident Nursultan Nasarbajew 2019 nach 29 Jahren sein Präsidentenamt abgegeben. Als Vorsitzender der Regierungspartei, des Nationalen Sicherheitsrats und in der Verfassung verankerter "Führer der Nation" hat er jedoch weitreichende Einfluss. Etwa ein Vetorecht bei der Besetzung aller wichtigen Staatsämter.

Dieses Thema im Programm:Heute in Osten - Reportage | 21. März 2020 | 18:00 Uhr