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Aleksander Auzan vor der Moskauer Lomonossow-Universität, an der er die Fakulät für Wirtschaftswissenschaften leitet. Bildrechte: Wirtschaftsfakultät der Lomonossow-Universität Moskau

UkrainekriegRussischer Wirtschaftsexperte: Russland kann Sanktionen trotzen

12. August 2022, 14:48 Uhr

Der russische Wirtschaftsexperte Alexander Auzan nennt die Sanktionen gegen Russland "Sanktionssturm". Doch er glaubt, dass die russische Wirtschaft dennoch Chancen hat, wenn sie sich auf ihre Zukunftsbranchen konzentriert: Digitalisierung und Atomenergie etwa.

von Daria Boll-Palievskaya

Herr Auzan, mehr als fünf Monate lebt die russische Wirtschaft nun mit umfassenden westlichen Sanktionen. Welche Auswirkungen sehen Sie?

Alexander Auzan: Die russische Wirtschaft bricht keineswegs zusammen. Sie hat es schwer, denn die Wucht des Schlages ist beispiellos. Wir nennen das einen "Sanktionssturm". Gegen Russland wurden in den ersten drei Wochen (nach Russlands Angriff auf die Ukraine - Anm. d. Red.) mehr Sanktionen verhängt als gegen den Iran in 40 Jahren. Dies wirkt sich natürlich sehr stark auf die makroökonomischen Parameter aus. Die Einfuhren sind um 40 Prozent zurückgegangen und auch die Exporte scheinen zu sinken.

Wir nennen das einen "Sanktionssturm". Gegen Russland wurden in den ersten drei Wochen mehr Sanktionen verhängt als gegen den Iran in 40 Jahren.

Doch wir haben 30 Jahre Erfahrung im Umgang mit Krisen - zwei Krisen in den 1990er Jahren, eine in den 2000er Jahren, eine im Jahr 2014-2015, dann die Covid-Krise und jetzt der "Sanktionssturm". Daher sind sowohl die Unternehmen als auch die Bevölkerung bereit, sich an die neue Situation anzupassen. Die Wirtschaft vereinfacht sich, indem sie die komplexen Industrien, die in den letzten 30 Jahren aufgebaut wurden, "abstößt". Die Logistik, die komplexen Finanzsysteme und der Dienstleistungssektor, der in der Sowjetunion praktisch nicht existierte, haben Schwierigkeiten. Dies gilt vor allem für die Megastädte, während die übrige Bevölkerung im Land die Auswirkungen der Krise noch nicht zu spüren bekommen hat.

Prof. Dr. Alexander Auzanist Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der Staatlichen Moskauer Lomonossow-Universität, Vorsitzender des öffentlichen Rates im russischen Wirtschaftsministerium und Forschungsdirektor des Instituts für nationale Projekte, das auf sozioökonomische Entwicklung und Organisationsdesign spezialisiert ist. Seit 2021 ist er außerdem Vorsitzender des Beirats von Yandex, Russlands größter Suchmaschine für die Entwicklung eines russischen digitalen Ökosystems.

Wie schwer treffen die Sanktionen die russische Wirtschaft wirklich?

Natürlich schaden die Sanktionen dem Land sehr. Sie treffen komplexe Branchen und Entwicklungsmöglichkeiten. Das bedeutet, dass wir aber erst später merken werden, dass wir dieses oder jenes Produkt nicht herstellen können, weil wir nicht über die notwendige Technologie verfügen. Sanktionen als Instrument, um den Kurs der Regierung zu ändern, haben jedoch noch nie zu gewünschten Ergebnissen geführt. Sehen Sie - Kuba ist seit 60 Jahren mit Sanktionen belegt, der Iran seit 40 Jahren. Es stellt sich die Frage: Warum werden überhaupt Sanktionen verhängt? Nun, ich denke, dass die Regierungen so ihren Wählern sagen wollen: "Schaut, wir bleiben nicht untätig." Es gibt noch ein zweites Motiv: Sanktionen wirken sich nicht auf das Land aus, gegen das sie verhängt werden, sondern auf dessen Partner. Das heißt, die Androhung von Sekundärsanktionen ist realistisch. Aus diesem Grund versuchen beispielsweise große chinesische Unternehmen, direkte Partnerschaften mit Russland zu vermeiden, auch wenn komplexe indirekte Lieferketten entstehen. In dieser Hinsicht können Sanktionen sinnvoll sein, da sie eine abschreckende Wirkung haben.

Wir beobachten die Auswirkungen einer Cancel Culture gegenüber Russland in großen gesellschaftlichen Gruppen in Amerika und Europa, d.h. es handelt sich bereits um Auseinandersetzungen zwischen den Zivilisationen.

Ein weiteres Merkmal der derzeitigen Sanktionen ist, dass es sich nicht nur um Regierungssanktionen handelt. Wir beobachten die Auswirkungen einer Cancel Culture gegenüber Russland in großen gesellschaftlichen Gruppen in Amerika und Europa, d.h. es handelt sich bereits um Auseinandersetzungen zwischen den Zivilisationen. Sie sind sehr gefährlich, weil sie so unerwartete Objekte wie den kulturellen Austausch und die Hochschulverbindungen treffen. Aus meiner Sicht ist das ein Rückschritt, eine Art kultureller Vandalismus.

Russlands Abhängigkeit vom Öl galt lange als Fluch für die russische Wirtschaft. Doch jetzt scheint es so, als würden die Öldollars Russland retten. Wie sehen Sie das?

Der hohe Anteil Russlands am globalen Energiesektor rettet die Lage. Russisches Öl ist ersetzbar, aber 30 Prozent des weltweiten Erdgases sind eine Menge. Folgt daraus, dass Russland alles richtig gemacht hat? Nein, das tut es nicht. Um sich zu entwickeln, brauchen wir nicht nur Geld, sondern auch Technologien, subtile, komplexe Technologien, und wenn wir diese nicht haben, dann sind wir natürlich selbst schuld daran, dass wir in den vergangenen Jahrzehnten keine entsprechenden Technologien aufgebaut haben und jetzt gezwungen sind, das Projekt zur Schaffung von Mikroelektronik neu zu starten.

Und offensichtlich hätten wir unsere Beziehungen früher diversifizieren und Beziehungen zu Indien, China usw. aufbauen müssen. Das entlastet die Politik nicht von der Schuld an der kurzsichtigen Wirtschaftspolitik.

Welche Branchen können die russische Wirtschaft voranbringen?

Russland ist neben den USA und China eines von nur drei Ländern weltweit mit digitalen Ökosystemen (also eines Zusammenwirkens von etwa einer Bank oder Suchmaschine, eines Internetunternehmens und eines Mobilfunkbetreibers zu einer einzigen Holding, die sämtliche Kundenbedürfnisse über ein One-Stop-Shop-System befriedigen soll - Anm. d. Red.). Moskau hat das höchste Carsharing-Niveau unter den Megastädten der Welt, und das russische mobile Banking gilt als das beste der Welt. Diese Errungenschaften sind äußerst wichtig und dürfen nicht verloren gehen. Wir müssen nicht darüber nachdenken, wie wir jetzt überleben, sondern darüber, wie wir uns später entwickeln werden.

Natürlich spielen westliche Technologien dabei eine wichtige Rolle, aber ich denke, dass wir in der Lage sein werden, diese Pionierleistungen der letzten Jahre zu erhalten. Einige besonders komplexe Projekte, die einen Supercomputer erfordern, werden verloren gehen, aber in Russland wurde der Mangel an Hardware immer durch die hohe Qualität der Programmierer kompensiert, die eine brillante Mathematikschule im Rücken haben. Allerdings verlassen viele IT-Fachleute das Land. China und die USA haben ganze Programme entwickelt, um führende Spezialisten für sich zu gewinnen. Aber unsere Regierung, so scheint mir, tut das Richtige, indem sie alle möglichen Anreize für den IT-Bereich schafft.

Darüber hinaus ist auch die Kernkraft für unsere Zukunft sehr wichtig. Rosatom (der russische Staatskonzern, der die zivile und militärische Atomindustrie des Landes kontrolliert - Anm. d. Red.) ist ein absoluter Weltmarktführer, auch wenn das Unternehmen durch die Sanktionen in Schwierigkeiten gerät. Auch der neue Trend in der Kreativbranche, der sich aus der Produktion von Animationen und Videospielen ergibt, muss unterstützt und weiterentwickelt werden. Mit anderen Worten, die Zukunft in 20 Jahren wird davon abhängen, ob wir in der Lage sind, dieses Potenzial in den nächsten drei schwierigen Jahren zu erhalten und dann darauf zu setzen.

Entscheidend sind dabei nicht wirtschaftliche Privilegien, sondern ob die Menschen in diesem Land arbeiten wollen. Und das erfordert nicht nur Geld: Hochwertiges intellektuelles Kapital, das wissen die Wirtschaftswissenschaftler, wird dann angezogen, wenn Menschen das Leben um sich herum beeinflussen können. Die Menschen wollen nicht nur Objekte der Politik sein, sondern auch Einfluss nehmen auf die Politik. Wenn solche Inseln der Autonomie geschaffen werden, dann wird es auch möglich sein, intellektuelles Kapital in Russland zu halten.

Die Autorin

Daria Boll-Palievskaya ist gebürtige Moskauerin und promovierte Germanistin. Als freie Journalistin, Autorin und Trainerin für interkulturelle Kommunikation lebt sie seit vielen Jahre in Deutschland. Sie ist Redakteurin der unabhängigen Online-Zeitung russland.NEWS und schreibt u.a für die Fachzeitschrift OstContact und die Moskauer Deutsche Zeitung.

Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | MDR Aktuell Hörfunk | 13. August 2022 | 07:15 Uhr