Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
SachsenSachsen-AnhaltThüringenDeutschlandWeltLeben
Ein Schüler setzt in einer Moskauer Schule die Attrappe eines Sturmgewehrs zusammen. Bildrechte: IMAGO/SNA

Schule und PropagandaRussland: Warum Frontkämpfer Kinder unterrichten

30. September 2024, 17:30 Uhr

Kampfdrohnen, Maschinengewehre, Vaterlandsliebe. Mit einem neuen Fach zieht ab diesem Schuljahr die militärische Ausbildung wieder in russische Schulen ein. Unterrichten sollen unter anderem aus dem Krieg gegen die Ukraine zurückgekehrte Soldaten. Wo Indoktrinierung und Denunziation zum Alltag werden, suchen Eltern und Lehrer auch Wege, sich zu entziehen.

Mit Beginn des neuen Schuljahrs gibt es in Russlands Schulen auch ein neues Fach: "Grundlagen der Sicherheit und des Schutzes des Heimatlandes" heißt es. Der Lehrplan kommt unter anderem aus dem Verteidigungsministerium. Im Unterricht lernen die Schüler etwa, wie man Kampfdrohnen richtig startet oder mit einem Maschinengewehr umgeht. Das neue Schulfach ersetzt das vorher schon bestehende Fach "Grundlagen der Lebenssicherheit" (GDL). Diese Entwicklung betrachtet der in Russland bekannte Pädagoge, Buchautor und Gründer der freien Schule "Apelsin" in St. Petersburg, Dima Sizer, als gefährlich. Im Gespräch mit dem MDR sagt er: "Das Fach GDL war auf das Individuum ausgerichtet. Dort lernten die Kinder Erste Hilfe zu leisten. Doch sobald das 'Heimatland' ins Spiel kommt, verschwindet der Mensch: Das Vaterland braucht nur kleine Rädchen im Getriebe."

Der russische Pädagoge Dima Sizer verfolgt die Indoktrinierung in Russlands Schulen aus dem Exil. Bildrechte: Dima Sizer

Von der Ukraine-Front an die Schulen: Ehemalige Soldaten unterrichten Schüler

So ist im Grunde die militärische Ausbildung, die es in der UdSSR bis 1990 gab, in die russischen Schulen zurückgekehrt. Nur eben unter der Maxime, dass man sich damit an die heute herrschenden Realitäten anpasst. Ein neues Fach erfordere auch neue Lehrer, und wer könnte besser Heimatliebe vermitteln als "Veteranen der militärischen Sonderoperation"? Zu diesem Zweck wurde ein Zentrum eingerichtet, um Soldaten aus dem Krieg gegen die Ukraine auf ihre Umschulung, unter anderem als Lehrer, vorzubereiten.

Die Tätigkeit dieses Zentrums wurde von Anna Ziwilewa, der stellvertretenden Verteidigungsministerin und gleichzeitig Leiterin einer Veteranen-Stiftung genehmigt. Auf ihrem Telegram-Kanal schreibt Ziwilewa, die nebenbei auch eine Großnichte des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist, warum ausgerechnet zurückgekehrte Kriegsteilnehmer sich als Lehrer eignen würden: "Die Pädagogen aus den Reihen der Helden der militärischen Sonderoperation, wissen, was Vaterlandsliebe, Ehre, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mut sind. Sie können unseren Kindern aufrichtig davon erzählen und mit gutem Beispiel vorangehen."

Russische Schüler im Frühjahr 2023 bei einem Militärtraining in der Region Belgorod. Bildrechte: IMAGO / SNA

Andere Indoktrinierung als zu Sowjet-Zeiten

Eine konsequente Indoktrination in der Schule begann aber nicht erst jetzt. Bereits 2022 wurden sogenannte "Gespräche über Wichtiges" eingeführt – verpflichtende Unterrichtseinheiten, die von Klassenlehrern landesweit abgehalten werden müssen. Diese Gespräche, bei denen es um die "militärische Sonderoperation" oder die Bedrohung durch den sogenannten "kollektiven Westen" geht, sollen patriotische Werte fördern. Bei ihrer Einführung hofften Viele, dass die "Gespräche" eine reine Formalie bleiben würden, wie auch viele staatliche Vorgaben in der späten Sowjetunion. Die jetzigen Neuerungen tragen den Krieg jedoch noch stärker in die Klassenzimmer als bisher.

Sizer sieht hingegen einen entscheidenden Unterschied zur späten Sowjet-Zeit: Während in der Breschnew-Ära ein öffentlicher Konsens gegen den Krieg geherrscht habe, werde heute gezielt jegliche Moral zerstört, das Verständnis von Gut und Böse gerate völlig durcheinander. Menschen seien gezwungen, im Sinne des Orwellschen Doppeldenk Schwarz als Weiß zu bezeichnen, so Sizer.

Krieg gegen Ukraine in Geschichtslehrbücher aufgenommen

Dem Kreml gehen diese Maßnahmen aber offensichtlich noch nicht weit genug. Während Schulen vorher zwischen verschiedenen Lehrbüchern wählen konnten, wurden letztes Jahr obligatorische Geschichtsbücher für die Oberstufe eingeführt, bei denen einer der Autoren der Präsidentenberater Wladimir Medinski war. Darin wurde ein Abschnitt über die "Rückkehr" der Krim und die "Sonderoperation" in der Ukraine hinzugefügt, wo russische Streitkräfte statt in einem Angriffskrieg "für das Gute und die Wahrheit kämpfen" würden. In diesem Schuljahr wurden diese Geschichtsbücher auch für die Klassen fünf bis neun verpflichtend, sodass eine einheitliche Reihe von Lehrbüchern den gesamten Geschichtsunterricht in der Schule abdeckt.

Schüler zu Beginn des neuen Schuljahrs im russischen Jekaterinburg. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Lehrer verlassen scharenweise die Schulen

Im September wurde noch ein weiteres Fach, die "Familienkunde", eingeführt. Laut Bildungsministerium soll es die "Treue zu den traditionellen russischen spirituellen Werten" fördern. "Es bleibt formal ein Wahlfach, wird aber zunehmend obligatorisch", stellt der im Exil lebende Pädagoge Sizer resigniert fest. Viele Lehrer versuchten sich dagegen zu wehren oder geben ihren Beruf auf. 2023 verließen laut Angaben des russischen Bildungsministeriums mehr als 193.000 Lehrer oder fast 14 Prozent der gesamten Lehrerschaft die Schulen – ein Rekordhoch. Auch wenn nicht alle aus Protest kündigen, treffe das immer noch für die Mehrheit zu, ist Sizer überzeugt. Er selbst musste Russland verlassen, weil gegen ihn ein Strafverfahren wegen Verbreitung von Fakenews über die russische Armee läuft.

Ein Grund für den Lehrerexodus sei das schulische Klima, in dem sich Lehrer und Schüler gegenseitig denunzierten, meint Dima Sizer: Das Denunziationssystem sei eine logische Fortsetzung der Ideologisierung. Dass Denunziation derart um sich greife, sei in allen totalitären Regimen der Fall gewesen, ob nun in Deutschland, Portugal oder Spanien, erinnert der Pädagoge. In einem ständigen Zwiespalt zu leben, sei unmöglich, daher identifizierten sich Menschen mit dem Staat oder gingen in die innere Emigration.

So glaubte Olga G. (Name geändert, der richtige Name liegt der Redaktion vor) bis Mitte letzten Jahres, dass an der Moskauer Schule ihrer Tochter vergleichsweise wenig Propaganda oder Denunziation betrieben würde. Doch dann gratulierte ein Vater in der Eltern-WhatsApp-Gruppe zum Frauentag – mit russischer Flagge und dem Kriegssymbol "Z". "Und alle schwiegen, als sei das völlig normal", erzählt sie.

Schülerinnen in der südrussischen Stadt Krasnodar bei den Feiern zum Beginn des neuen Schuljahres. Bildrechte: IMAGO/SNA

Schüler kommen an Kriegspropaganda nicht vorbei

Heute werden junge Menschen von allen Seiten mit Propaganda konfrontiert. Auf dem Schulweg begegnen sie Plakaten, die die "Helden der militärischen Sonderoperation" feiern. An den Schulen sind Tafeln zu Ehren dieser "Helden" angebracht und in den Klassenzimmern hängt ein Putin-Porträt. "In vielen Schulen müssen Kinder Tarnnetze flechten", empört sich Sizer. Das Projekt "Nicht die Norm" eines ehemaligen Nawalny-Mitstreiters hat ermittelt, dass allein in der Region Tschuwaschien 80 Prozent der Schulen Begegnungen mit Kriegsteilnehmern organisiert haben. Zu Hause läuft die Propaganda im Fernsehen. Eine Achtklässlerin berichtet Sizer über seinen Youtube-Kanal von ihrer Situation: "Alle um mich herum sind für den Krieg. Was soll ich tun?" Eine einfache Antwort hat der Pädagoge nicht: "Sie muss bis zum Ende der neunten Klasse durchhalten. Danach kann sie in eine andere Stadt ziehen oder einen weniger konfrontativen Bildungsweg wählen." Etwa eine berufliche Ausbildung, die Jugendliche in Russland nach der 9. Klasse beginnen können.

Alle um mich herum sind für den Krieg. Was soll ich tun?

Russische Achtklässlerin

Manche Eltern suchen Alternativen

"Kindern muss man immer die Wahrheit sagen," sagt Sizer, fest überzeugt von diesem pädagogischen Grundsatz. Doch ist das im heutigen Russland noch möglich? Der Pädagoge verweist auf das russische Bildungsgesetz von 1993, das in seiner Sicht in einem Punkt eines der fortschrittlichsten der Welt ist. "Jedes Kind kann problemlos in den häuslichen Unterricht wechseln," erklärt er, und fügt pessimistisch hinzu: "Aber ich befürchte, dass sie das auch abschaffen werden."

Für manche Eltern scheint dies der einzige Ausweg, um ihre Kinder vor Lehrern wie Andrei Schinjagin zu schützen. Laut Recherchen des russischen Exilmediums "Agentstvo" wird dieser Kriegsteilnehmer nach seiner "Umschulung" "Grundlagen der Sicherheit und des Schutzes des Heimatlandes" unterrichten – trotz einer Vorstrafe wegen Körperverletzung und illegaler Freiheitsberaubung.

MDR (usc)

Ein Angebot von

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Heute im Osten | 05. Oktober 2024 | 07:17 Uhr