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Der russische Angriffskrieg hat das Leben aller Ukrainer verändert – eine junge Frau beim Gedenken an gefallene Verteidiger des Landes. Bildrechte: IMAGO/Kyodo News

KommentarEin Jahr Ukraine-Krieg: Wo die Deutschen falsch liegen

10. März 2023, 10:18 Uhr

Reden die Deutschen über den Ukraine-Krieg, sind viele zweifelhafte Thesen zu hören, die auf unrealistischen Annahmen beruhen, glaubt Denis Trubetskoy, MDR-Ostblogger in Kiew. Etwa: Stoppt Waffenlieferungen, dann endet der Krieg. Oder: Gegen eine Atommacht kann man nicht gewinnen. Zum ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine nimmt unser Kollege diese Ansichten aufs Korn – ein ukrainischer Blick auf die deutschen Debatten über den Krieg.

Ein Jahr Krieg in Europa. Ein Jahr Krieg in der Ukraine. Ein Jahr Ukraine-Krieg. Solche Formulierungen werden die Schlagzeilen am 24. Februar dominieren. Dieses Datum werden Generationen genauso in Erinnerung behalten wie einst den 22. Juni 1941, als Nazi-Deutschland die Sowjetunion überfiel. Denn es war der Tag, an dem Wladimir Putin – ohne darum von jemandem gebeten worden zu sein – das Leben von allen mehr als 40 Millionen Ukrainern komplett veränderte.

Zugegeben, die westliche Fokussierung auf diesen Jahrestag mag jetzt, wo überhaupt kein Ende des Krieges in Sicht ist, von Kiew aus etwas komisch wirken. Am 24. Februar 2023 mögen vielleicht ein paar Raketen mehr als sonst Richtung Ukraine fliegen. Der Tag wird sich jedoch im Wesentlichen kaum vom 23. oder 25. Februar unterscheiden. Dennoch: Es ist absolut richtig, an diesen Jahrestag zu erinnern. Er bringt zusätzliche Aufmerksamkeit für die Ukraine, was gut ist. Das wirkliche Problem sind Begriffe wie "ein Jahr Krieg" oder "der Ukraine-Krieg". Sie sind symptomatisch für die teils sehr naive, sich ständig im Kreis drehende deutsche Debatte.

Ukraine: Kriegsschauplatz schon seit 2014

Denn der russische Krieg gegen die Ukraine begann nicht erst 2022, sondern bereits Ende Februar 2014 mit der Besetzung der Krim-Halbinsel durch Russland. An der militärischen Auseinandersetzung im Donbas haben reguläre russische Truppen nachweislich mehrfach an der Seite der sogenannten "prorussischen Separatisten" teilgenommen. Und einen für die Ukraine ungemütlichen Kompromiss ist Kiew bereits im Februar 2015 eingegangen, als die russische Armee im Donbas vorankam und gleichzeitig die Minsker Vereinbarungen unterschrieben wurden. Wären diese voll umgesetzt worden, hätten von Moskau eingesetzte Figuren in Donezk und Luhansk extreme Sonderrechte wie eine eigene Volksmiliz erhalten. Für die Ukraine war Minsk II faktisch ein Kapitulationsabkommen – für Russland einer der größten außenpolitischen Erfolge der Putin-Ära.

Putin: kein glaubwürdiger Vertragspartner

Doch Putin hält sich nicht an Abkommen. Erster Punkt von Minsk II war ein Waffenstillstand, der auch heute von Prominenten wie Sahra Wagenknecht oder Alice Schwarzer so oft angesprochen wird. Dieser wurde jedoch gleich gebrochen, als Separatisten und russische Truppen drei Tage nach der Unterzeichnung des Abkommens die Stadt Debalzewe einnahmen. Es folgten nicht nur weitere grobe Waffenstillstandsverletzungen im Laufe des Jahres 2015. 2019 entschied sich Moskau, russische Pässe massenhaft und nahezu bedingungslos an Bewohner von Donezk und Luhansk zu verteilen. Es mag sein, dass die vollständige Umsetzung der Minsk-Abkommen von Anfang an unrealistisch war – zu groß war der Druck der unzufriedenen ukrainischen Gesellschaft auf die Politiker in Kiew. Dafür, dass die Minsker Vereinbarungen politisch tot sind, hat jedoch Putin höchstpersönlich gesorgt.

Russlands Präsident Wladimir Putin als Kriegstreiber auf einem Poster – Antikriegsdemo in Rom. Bildrechte: IMAGO/NurPhoto

Aufgrund dieser Erfahrungen ist nicht überraschend, dass die Ukrainer gar nichts von der Idee halten, die manchmal im Westen propagiert wird – nämlich den Krieg noch einmal einzufrieren, diesmal in einem größeren Maßstab, denn das ist schon einmal knallhart gescheitert. Diese Tatsache wird aber von den ständig durch die deutsche Medienlandschaft tourenden Schwarzers und Wagenknechts komplett – und wohl bewusst, denn sind sie ja eigentlich kluge Frauen – ausgeblendet. In einem Jahr schafften sie es nicht, zumindest Ansätze einer realistischen Lösung zu formulieren. Dennoch wird oft viel mehr über ihre "offenen Briefe" und Petitionen diskutiert als über die tatsächliche Lage.

Wird Deutschland zur Kriegspartei?

Das gilt leider für viele Debatten und Thesen, bei denen es eigentlich nichts zu diskutieren gibt. Nehmen wir zum Beispiel die unendliche Diskussion darüber, ob Deutschland durch die Lieferung von Kampfpanzern oder anderen Waffen zur Kriegspartei wird. Völkerrechtlich ist Antwort klar und eindeutig: Belarus, das sein Territorium den Russen als Aufmarschgebiet zur Verfügung gestellt hat, ist Kriegspartei – Deutschland dagegen nicht. Und wenn wir in den Kopf von Wladimir Putin schauen könnten, käme vermutlich heraus: Vom ersten Tag seiner Invasion an führt er einen Krieg nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen den gesamten Westen. Daran ändern Leopard-Kampfpanzer recht wenig.

Stumme Zeugen des Krieges: Ausgebrannte Autowracks wie hier in Kiew sind für die Ukrainer Alltag geworden. Bildrechte: IMAGO/NurPhoto

Kann die Ukraine gegen Russland gewinnen?

Ein weiteres Ammenmärchen: Gegen eine Atommacht kann man keinen Krieg gewinnen. Das ist schlicht und ergreifend falsch, siehe Vietnam-Krieg, der bekanntlich mit einer Niederlage der USA endete. Ebenso beliebt wie falsch ist auch die Behauptung: Erst wollten die Ukrainer Kampfpanzer, heute fordern sie Flugzeuge und morgen bitten sie um Bodentruppen. Fakt ist: Während die Ukraine Kampfflugzeuge wirklich braucht, hat sie nie um Bodentruppen gebeten – und wird nach meiner Überzeugung weder Deutschland noch andere westliche Staaten darum bitten.

Erzwungener Frieden? Nicht mit den Ukrainern!

Am ärgerlichsten für mich ist jedoch, dass die Rechnung sehr oft ganz ohne die ukrainische Gesellschaft gemacht wird – dabei ist die Ukraine ein Land mit einer Tradition riesiger Massenproteste, denken wir nur an die beiden bekanntesten Protestwellen der Orangen Revolution und des Euromaidans. Theoretisch wäre es ja denkbar, auch wenn sie es in der Realität nie versucht haben, dass Joe Biden oder Boris Johnson den ukrainischen Präsidenten Selenskyj überreden, einen Friedensvertrag mit Russland zu schließen. Die ukrainische Bevölkerung, die in diesen Krieg gegen ihren Willen hineingezogen wurde, würde das aber niemals akzeptieren, es gäbe wieder riesige Massenproteste. Wobei man festhalten muss, dass Russland ohnehin zu keinem Zeitpunkt dieses Krieges ernsthaft Frieden wollte.

Keine Waffenlieferungen – kein Krieg?

Genauso falsch ist die Vorstellung mancher Deutscher, die Ukrainer würden aufhören zu kämpfen, wenn westliche Waffenlieferungen ausblieben. Diese Option existiert in Wirklichkeit nicht – und es würde der Debatte gut tun, nicht endlos über unrealistische Optionen zu diskutieren. Sicher, die ukrainische Armee wäre wohl irgendwann geschlagen, es gäbe russische Repressionen gegen die Bevölkerung und einen extrem langen Guerilla-Krieg. Doch es gibt in der ukrainischen Gesellschaft, auch aufgrund der Erfahrungen der Jahre 2014 bis 2021, einen Konsens: Die Ukrainer sollen weiterkämpfen und Russland so weit zurückschlagen, wie es geht.

Schwarzer und Wagenknecht dürfen in ihrem "Manifest für den Frieden" in einer demokratischen Gesellschaft natürlich argumentieren, wie sie wollen. Sie sollten ihre aus meiner Sicht ukrainefeindlichen Forderungen jedoch nicht mit einer vermeintlichen Solidarität mit Ukrainern verbrämen, deren Schicksale ihnen in Wahrheit offenbar egal sind. Denn, wie ich das sehe, werben sie in Wirklichkeit für die russische Besatzung der Ukraine – ohne das offen auszusprechen.

Für manche Deutsche ist nicht Putin, sondern der Westen am Ukraine-Krieg schuld – Demo gegen Waffenlieferungen am Rande der Sicherheitskonferenz in München im Februar 2023. Bildrechte: IMAGO / aal.photo

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