Digitalsierung Serbien: Vom Agrarstaat zur Digitalnation

14. Mai 2020, 17:31 Uhr

Corona treibt die Digitalisierung voran. Auch in Serbien. Dort soll Informatik nun schon für Grundschüler zum Pflichtfach werden. Anspruch und Wirklichkeit klaffen allerdings noch weit auseinander.

Ein Mädchen hält ein Tablet in den Händen.
Alles digital: In Serbiens Schulen sollen alle Kinder programmieren lernen. Bildrechte: imago images / Panthermedia

Als in der Grundschule meiner Töchter im Zentrum Belgrads im vergangenen Jahr elektronische Klassenbücher eingeführt wurden, waren meine Kinder überhaupt nicht begeistert. Es war für sie eine Horrorvorstellung, dass ich jederzeit Einsicht in ihre Noten und Fehlzeiten haben werde. Und tatsächlich hatte ich Verständnis für ihr Entsetzen: Schule ohne ein bisschen Schwänzen, sofortige Maßnahmen bei Fehlleistungen, Kindheit unter elektronischer Kontrolle. All das entspricht nicht gerade den romantischen Vorstellungen von der Entwicklung eines freien Geistes. Und es ist mir auch nicht geheuer, eine App zu aktivieren, über die ich jederzeit feststellen könnte, wo sich meine Kinder befinden. Manche Eltern tun das.

Ich versuchte, meine Töchter über die Vor- und Nachteile des digitalen Zeitalters aufzuklären. Ja, ich hätte Verständnis, dass das mit den elektronischen Klassenbüchern für sie nicht so toll ist, aber dafür hätten sie freies und schnelles Internet in ihrer Schule und könnten in den Pausen schnell ins sozial lebenswichtig gewordene Instagram schauen. Und nein, ich hätte kein Verständnis, dass das Smartphone Bücher und richtigen menschlichen Kontakt aus ihrem Leben verdränge.

Die Einführung elektronischer Klassenbücher in serbischen Schulen begann im Schuljahr 2017/2018. Im Schuljahr 2018/2019 umfasste das Projekt 500 Schulen und sollte auf alle rund 3.800 Grund- und Mittelschulen in Serbien ausgedehnt werden, heißt es auf der Webseite des Bildungsministeriums. Wie weit man gekommen ist mit der Einführung elektronischer Klassenbücher, steht da nicht.

Klassenbuch
Klassenbuch aus Papier: An Serbiens Schulen ein Auslaufmodell. Bildrechte: imago images / photothek

Auf zur Digitalnation

Die "Digitalisierung Serbiens" ist das Lieblingsprojekt von Ministerpräsidentin Ana Brnabić. Parallel mit elektronischen Klassenbüchern sollten auch alle serbischen Schulen mit Computern für den Unterricht ausgestattet und Informatik als Pflichtfach noch in Grundschulen eingeführt werden. Die Serben sollten eine Nation von Programmierern werden.

Serbiens IT-Sektor soll jährlich um 25 Prozent wachsen, die IT-Exporte sind inzwischen angeblich grösser als die aus dem Agrarbereich. Serbien wirbt für sich als ein Land der Billigfachkräfte, und so sind auch serbische Programmierer wesentlich billiger als im Westen, verdienen aber weit über dem offiziellen Durchschnittseinkommen von 500 Euro. "Länder wie Serbien haben mit der vierten industriellen Revolution die Chance, Gewinner zu werden", sagte Brnabić der Schweizer Tageszeitung Blick. Vom Agrarstaat zur Digitalnation, heißt die Devise.

Serbien Premierministerin Ana Brnabic
Serbiens Ministerpräsidentin Ana Brnabić: Die Digitalisierung des Landes ist ihr Lieblingsprojekt. Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Informatik als Pflichtfach

Zum ambitionierten Ziel führt jedoch noch ein weiter Weg. Zwar sind serbische Grund- und Mittelschulen größtenteils mit Computern ausgestattet und haben Zugang zum relativ schnellen Internet, doch um Informatik als Pflichtfach einzuführen, müssten erst Zehntausende Lehrer ausgebildet werden. Nach Angaben des Bildungsministeriums in Belgrad soll Informatik ab Beginn des Schuljahres 2020/2021 als Pflichtfach in Grundschulen unterrichtet werden. Wie und ab welcher Klasse ist noch nicht bekannt.

"Eine Arbeitsgruppe wird einen Plan ausarbeiten, mit welcher Dynamik dieses Fach eingeführt werden soll", erklärte Bildungsminister Mladen Šarčević. Im Vorjahr kündigte der Minister 10.000 voll ausgestattete digitale Klassenzimmer in ganz Serbien an.

Funktionale Analphabeten

Meine vierzehnjährigen Zwillingstöchter haben den "großen Informatikboom" im serbischen Schulsystem jedenfalls verpasst. Sie beenden dieses Jahr die achtjährige Grundschule. In ihrer Schule im Zentrum Belgrads hatten sie Informatik lediglich als Wahlfach. Von Programmieren haben sie keine Ahnung.

Im Gegensatz zur goldenen Zukunftsprojektion der serbischen Regierung, sieht die Wirklichkeit allerdings ganz anders aus: Einer PISA-Studie von 2019 zufolge sind rund 40 Prozent der serbischen Schüler im Bereich Mathematik funktionale Analphabeten. Das gilt ebenso für die Lesekompetenz und für wissenschaftliches Arbeiten im Allgemeinen, berichtete im Dezember das serbische Staatsfernsehen. Immerhin, Onlinegehen kann man in Serbien dafür schon überall: Selbst im winzigsten Lokal in Serbien dürfen sich die Gäste über schnelles und kostenloses Internet freuen.

Test in Zeiten von Corona

Als wegen der Coronavirus-Pandemie die Schulen in Serbien geschlossen wurden, konnten meine Töchter über eine App ganz gut mit ihren Lehrern kommunizieren und Hausaufgaben schicken. Mit einigen Schwierigkeiten wurde auch eine Online-Probe der kleinen Matura (die Abschlussprüfung nach der achtjährigen Grundschule) durchgeführt. Genaue Angaben darüber, wie das alles landesweit funktioniert hat, gibt es nicht. Einen Monat vor der kleinen Matura wusste man jedenfalls immer noch nicht, ob die kleine Matura wie bisher in Schulklassen organisiert wird oder tatsächlich ein Online-Experiment gewagt wird.

Dieses Thema im Programm: Thüringenjournal | 06. Februar 2020 | 19:00 Uhr

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