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Seit Wochen protestieren die Menschen in Belgrad gegen Gewalt. Bildrechte: IMAGO/Pixsell

Nach den AmokläufenSerbien: Wettstreit um die größte Kundgebung

27. Mai 2023, 07:14 Uhr

In Belgrad gibt es derzeit Massenproteste gegen die Gewalt in der Gesellschaft und gegen die Regierung, die diese Gewalt nicht nur nicht verhindert, sondern nach Ansicht Vieler auch noch schürt. Nun organisiert die Staatsführung eine Kundgebung zu ihrer eigenen Unterstützung – ein absurder Überbietungswettbewerb.

Anlass der Proteste waren zwei Gewalttaten, die das Land kurz hintereinander erschütterten: Ein 13-jähriger Schüler und ein 21-jähriger Amoktäter erschossen insgesamt 17 Menschen und verletzten zahlreiche weitere. Die Opfer waren vor allem Kinder und Jugendliche. Die Bürger demonstrieren seitdem immer wieder gegen die in der serbischen Gesellschaft tief verwurzelte Gewalt. Die wird derzeit aber vor allem von der aktuellen Regierung und von Präsident Aleksandar Vučić geschürt.

Zwei Amokläufe haben die serbische Gesellschaft erschüttert. Am 19. Mai gingen Beobachtern zufolge so viele Menschen auf die Straße wie nie zuvor. Bildrechte: Andrej Ivanji

Doch das ist erst der Anfang: Die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) hat für den 26. Mai ihre eigene Kundgebung in Belgrad vor dem Parlament angekündigt – die "größte in der Geschichte Serbiens", wie Parteichef und Staatspräsident Vučić sagte. Er will der Opposition zeigen, wer der eigentliche Volkstribun ist, zu wem die meisten Serbinnen und Serben stehen.

Funktionäre werben für eine "historische" Demonstration

Die regierungstreuen Medien sind voll in das Marketing des "historischen" Ereignisses eingespannt. Da läuft ein Countdown: Vier Tage bis zur Kundgebung, drei Tage bis zur Kundgebung, zwei Tage bis zur Kundgebung... Lokale Parteifunktionäre und Direktoren öffentlicher und privater Betriebe aus dem ganzen Land, die der SNS nahestehen, haben Quoten erhalten, wie viele Menschen sie dem Präsidenten am Freitag nach Belgrad "liefern" sollen. Die Fahrt ist natürlich kostenlos, Teilnehmer sollen mit Wasser und Butterbroten versorgt werden. Kritische serbische Medien berichten dagegen, dass vielen Arbeitnehmern mit der Kündigung gedroht wird, wenn sie an der "grandiosen" Demonstration der SNS nicht teilnehmen.

Tausende Busse und ganze Züge sind schon für die Kundgebung des Regimes reserviert, weswegen im ganzen Land Linienbusse ausfallen. Auch aus Nordmazedonien und der serbischen Entität in Bosnien Republika Srpska sollen tausende Menschen nach Belgrad zur Glorifizierung des "Präsidenten aller Serben" gebracht werden.

Zwei Damen protestieren vor dem Parlament in Belgrad gegen Waffengewalt. Bildrechte: IMAGO/Pixsell

Man erwartet mindestens 150.000 Bürger, die – wie von SNS-Funktionären verkündet wird – für das "anständige" Serbien stehen, die den "wirtschaftlichen Fortschritt des Landes und die Einheit des Volkes unterstützen". Im Gegensatz dazu würden die "Hyänen und Geier" der Opposition, unter dem Schirm der Proteste gegen Gewalt eine Handvoll verführter Bürger missbrauchen "um mit Gewalt an die Macht zu kommen", so das offizielle Vokabular.

Die größte Demo aller Zeiten

Die Proteste gegen die Regierung haben derweil gewaltige Ausmaße angenommen. Bürgerliche Aktivisten, die in den vergangenen drei Jahrzehnten an fast allen Protesten gegen Krieg und Gewalt und für Demokratie und Frieden in Belgrad teilgenommen haben, behaupten, sie hätten nie so viele Demonstranten gesehen wie am Freitag dem 19. Mai, dem dritten "Protest gegen Gewalt" in Folge. Der Autor dieses Textes kann das nur bestätigen, es müssen sich weit über 100.000 Menschen versammelt haben. Stundenlang blockierten sie die Gazela-Brücke, über die eine Autobahn führt.

Die Opposition verlangte den Rücktritt des Innenministers und des Chefs des Geheimdienstes, und forderte die Regierung außerdem dazu auf, TV-Sendern, die über Reality Shows, Talkshows und Informationsprogramme Gewalt in der Gesellschaft verherrlichen, die nationale Lizenz zu entziehen. Als Antwort auf Vučićs "größte serbische Kundgebung aller Zeiten" am Freitag kündigte die Opposition gleich für den Samstag ihren eigenen Protest "freier" Menschen an, die nicht erpresst oder bezahlt werden, um zu demonstrieren. Es ist bereits der vierte in Folge.

Ein verrücktes politisches Kalkül

Es ist verrückt: Präsident Vučić hat die politische Debatte im Land in einen Wettbewerb verwandelt, wessen Protest größer ist. Genauso absurd ist es, dass eine Partei, die alle staatlichen Institutionen und die meisten Medien kontrolliert und einen dominanten Einfluss auf die Gesellschaft ausübt, einen Protest gegen die Zustände in dieser Gesellschaft organisiert. 

Doch dahinter steckt ein politisches Kalkül, es ist die gleiche Methode der Machtausübung, die der Autokrat seit über einem Jahrzehnt anwendet: Das gesamte politische Leben, alle demokratischen Institutionen, Medien, die Wahrheit selbst, alles, was die Opposition tut, soll bis zur Absurdität verunstaltet werden, damit die Bürger die Politik insgesamt für abstoßend halten und politisches Engagement meiden. So sollen am Ende nur noch die rund 750.000 disziplinierten Parteimitglieder der SNS mit ihrem Führer und seinen Mannen die Politik des Landes weiter dominieren können. Doch diesmal ist alles anders, die alten Methoden verfehlen das Ziel, diese Kraftprobe auf der Straße könnte leicht außer Kontrolle geraten.

Protestieren aus freien Stücken: Demonstranten gegen Gewalt in Belgrad. Bildrechte: IMAGO/Pixsell

Präsident Vučić sieht sich allerdings zu diesem Schritt gezwungen: Außenpolitisch steigt der Druck aus Washington und Brüssel auf ihn, endlich Sanktionen gegen Russland einzuführen und der Selbstständigkeit des Kosovo nicht länger im Wege zu stehen. Zudem veröffentlichte die New York Times vor kurzem einen langen Artikel über die Verbindungen Vučićs mit dem organisierten Verbrechen. Mit dieser Recherche beschäftigte sich auch der Kongress der USA. Man sei sich der enormen Korruption in Serbien bewusst, hieß es. Und dann passierte innenpolitisch etwas, was niemand voraussehen konnte: Die Amokläufe am 3. und 4. Mai. Diese lösten "Proteste gegen die Gewalt" aus, die nun wie eine Lawine über Serbien rollen und die Macht des Autokraten Vučić bedrohen. Der will sich nun hinter dem Volk verstecken, und nach innen und außen zeigen, dass wer ihn angreift, das ganze serbische Volk angegriffen hat.

Unfähig, Beileid und Trauer zu zeigen

Der begabte Populist musste sich bisher wegen oppositioneller Massenproteste keine Sorgen machen – vor allem, weil er die meisten Medien fest im Griff hat. Doch nach den tragischen Ereignissen wirkt er völlig überfordert. Plötzlich landete das brutale politische Ringen auf dem Spielfeld der Menschlichkeit, und da erscheint er unbeholfen, rutscht aus und stolpert, macht einen Fehler nach dem anderen. Die Vertreter des Staates waren schlicht nicht in der Lage, Beileid und Trauer zu zeigen, ihre Auftritte unmittelbar nach dem Tod der Kinder waren, wie immer, nichts anderes als Selbstvermarktung und Abrechnung mit Andersdenkenden. Das, und nicht der Aufruf von Oppositionspolitikern, lockte so viele Menschen auf die Straße, dass nun das ganze System wackelt.

"Was ist so komisch?" Diese Frage richtet sich an Präsident Vučić, der sich mit Mitarbeitern grinsend bei Instagram zeigte, während das Land trauerte. Bildrechte: Andrej Ivanji

Ein auf sozialen Netzwerken verbreitetes Foto von Vučić, seiner Ministerpräsidentin und dem Finanzminister auf dem sie grinsend in die Kamera schauen, während Zigtausende auf den Straßen in tiefer Trauer demonstrierten, ist zum Symbol der Proteste geworden – es provozierte nur noch mehr Menschen ihren Unmut zu zeigen. Vučić selbst stellte das Bild auf Instagram: Er wollte zeigen, wie unbekümmert und unberührbar er und seine engsten Mitarbeiter sind. Für viele der Protestierenden wird damit einmal mehr deutlich, dass er die neu entstandene Situation überhaupt nicht versteht.

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 20. Mai 2023 | 06:30 Uhr