Ukraine Rückkehr nach Kiew: Alltag zwischen Barrikaden und Luftalarm

13. Mai 2022, 16:36 Uhr

Aus Kiew waren zwischenzeitlich etwa die Hälfte der vor dem Krieg etwa 3 Millionen Einwohner geflohen. Doch immer mehr Menschen kehren trotz der Gefahr von Luftangriffen und der Ungewissheit, ob es erneute Angriffe russischer Bodentruppen geben wird, zurück – und geben sich durchaus siegessicher.

Am dritten Tag des großen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine habe ich Kiew verlassen. Neun Wochen später bin ich in die Hauptstadt zurückgekehrt. Die Zeit dazwischen habe ich im nahen Bezirk Schytomyr sowie in der westukrainischen Metropole Lwiw verbracht. Bereits der Weg zurück in die Hauptstadt über die sogenannte Schytomyrer Trasse lässt einen nicht kalt: In den Städten und Dörfern vor Kiew standen an der Straße immer noch zerstörte Panzer, teils völlig zerstörte Wohngebäude, Tankstellen und Supermärkte lassen nur vermuten, wie brutal das Vorgehen der russischen Streitkräfte hier gewesen sein muss.

Die russischen Bodentruppen haben die Umgebung von Kiew inzwischen längst verlassen und deswegen kehren auch seit Wochen immer mehr Menschen in die Hauptstadt zurück. Zwischenzeitlich war etwa die Hälfte der Einwohner aus Kiew geflohen. Jetzt sind die russischen Feiern zum 9. Mai, dem "Tag des Sieges" über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg vorbei und nun können die Menschen langsam auch aus Sicht des Bürgermeisters Vitali Klitschko zurückkehren. Er hatte vor kurzem noch vor einer Rückkehr gewarnt, da am 9. Mai mit verstärkten Angriffen der russischen Armee zu rechnen war. Auf russischen Raketenbeschuss müssen sich die Kiewer aber wahrscheinlich bis zum Ende dieses Krieges einstellen. Und so trafen russische Raketeneinschläge ausgerechnet am Tag meiner Rückkehr nach Kiew unter anderem ein Wohnhaus. Eine in diesem Gebäude wohnende Journalistin ist dabei ums Leben gekommen, UN-Generalsekretär Guterres war zu dem Zeitpunkt ebenfalls in der Stadt.

Sicherheitslage in Lwiw und Kiew ähnlich

Trotz allem war ich sehr froh, endlich wieder zu Hause zu sein. Denn als ich Kiew verließ, wusste ich aufgrund der Kämpfe nicht, in was für eine Stadt ich zurückkehren würde. Aktuell ist die Gefahr russischer Raketenangriffe im ganzen Land ungefähr gleich groß. Außerdem scheint sich das russische Militär momentan darauf zu konzentrieren, die Eisenbahninfrastruktur zu beschießen, um westliche Waffenlieferungen zu erschweren. Natürlich ist Kiew heute nicht die gleiche Stadt wie vor dem 24. Februar, was ja auch nicht zu erwarten war. Doch es ist immer noch meine Stadt. In den sieben Jahren, die ich hier lebe, habe ich sie sehr lieben und schätzen gelernt.

"Zwischenzeitlich brannte in unserem Haus abends nur noch in ein paar Wohnungen Licht. Es war ein surreales Gefühl. Ich wollte jedoch auf keinen Fall wegfahren, habe aus Angst aber meine Wohnung zusätzlich abgesperrt", erzählte mir eine Nachbarin. Sie hat die ganze bisherige Zeit des Krieges in unserem Wohnhaus im Stadtteil Obolon im Nordwesten von Kiew verbracht, durch den am 25. Februar die ersten Gruppen russischer Saboteure in die Hauptstadt eingedrungen sind. Ohne Erfolg, wie wir heute wissen, denn es gelang den russischen Streitkräften nicht, die Hauptstadt einzunehmen. Deswegen sieht man allerdings gerade in Obolon am Straßenrand häufig vorbereitete Straßen- und Panzersperren sowie kleine Gräben – in der Tat ein surreales Gefühl. Doch mittlerweile ist über die Hälfte der Bewohner unseres Hauses zurückgekehrt – und das ist auch der Eindruck, den man in der Stadt generell hat.

Alltag im Krieg – kaum Autoverkehr, häufig Luftalarm

Doch trotzdem ist es viel leerer als sonst. Gerade die Anzahl der Autos ist minimal. Was allerdings damit zu tun hat, dass man im Moment kaum tanken kann – und wenn doch, steht man mehrere Stunden Schlange und darf nicht mehr als zehn Liter Benzin kaufen. Dennoch wird Kiew immer lebendiger, weil jeden Tag immer mehr Cafés und Geschäfte wiedereröffnen. Während etwa im westukrainischen Lwiw nahezu alle Läden und Lokale offen sind, bleibt das Verhältnis in Kiew etwa bei fünfzig-fünfzig. Doch das ändert sich in der Tat schnell – trotz der Luftalarme, die inzwischen in der gesamten Ukraine zum Alltag gehören. Am Sonntag, als Bono und Edge von der irischen Rockband U2 ein improvisiertes Konzert in einem U-Bahnhof spielten, gab es beispielweise sieben Mal Luftalarm. Viele Menschen ignorieren ihn inzwischen sogar.

"Ich versuche, mich bei jedem Luftalarm zumindest im Korridor zu verstecken, damit mindestens zwei Wände zwischen mir und den Fenstern sind", sagt mir ein guter Freund dazu. "Ich habe keine Kraft mehr, immer Angst zu haben. Es kommt, wie es kommt", betont dagegen eine Freundin. Meine Nachbarn folgen dabei eher dem ersten Beispiel und gehen bei Luftalarm in den Hausflur, was dazu geführt hat, dass ich sie in den zurückliegenden anderthalb Wochen besser kennengelernt habe als in den ganzen vier Jahren davor. Auch das ist eine Folge des russischen Krieges: Man rückt näher zusammen. Und ich muss nun den Nachbarn öfter als sonst erklären, warum der deutsche Bundeskanzler Scholz trotz aller berechtigter Kritik sicherlich kein Putin-Agent ist.

Zum Kiewer Alltag gehören nun außerdem nicht nur die Sperrstunde ab 22 Uhr und das Verbot, außerhalb der Zeit von 11 bis 16 Uhr Alkohol zu verkaufen, sondern etwa auch, dass Polizisten vor dem Eingang in die U-Bahn aufmerksam Ausweise anschauen. Die eigenen Dokumente muss man jetzt grundsätzlich bei sich tragen, denn sie werden oft kontrolliert. Die U-Bahn ist im Krieg immer gefahren, wenn auch mit großen Einschränkungen. So kam sie zeitweise nur im Stundentakt, mittlerweile muss man auf einen Zug "nur noch" bis zu fünfzehn Minuten warten. Ähnliche Einschränkungen gibt es auch bei anderen öffentlichen Verkehrsmitteln, die aufgrund der Treibstoffkrise stärker nachgefragt werden.

Trotz des Krieges erwacht Kiew im Moment wieder und die Bewohner geben sich siegessicher. "Alles wird, Ukraine", sagen mir meine Nachbarn ständig mit einem Lächeln. Diesen Ausspruch, eine Version von "Alles wird gut" hört man hier gerade überall. Und auch wenn verbliebene Straßensperren sowie teils immer noch leere Straßen eine apokalyptische Stimmung erzeugen, bin ich sehr froh, wieder zu Hause zu sein. Und auch darüber, meine Freunde wiederzusehen, wie etwa vor einer Woche auf einer Benefiz-Plattenbörse zugunsten der ukrainischen Armee in einer halbwegs sicheren Kellerbar. Fröhliche Lieder hat man dort wegen des Krieges aber nicht gespielt. Dennoch war und ist ein hartnäckiger Optimismus in der ukrainischen Hauptstadt deutlich zu spüren. Und das, obwohl niemand komplett ausschließen kann, dass Russland einen zweiten Bodenangriff auf Kiew versuchen wird.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 07. Mai 2022 | 07:17 Uhr

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