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Ein Graffiti in Prag zeigt die Solidarität der tschechischen Bevölkerung mit der Ukraine. Bildrechte: IMAGO

Ukraine-KriegAntirussische Stimmung in Tschechien

31. März 2022, 16:43 Uhr

Viele Tschechen wollen der ukrainischen Bevölkerung helfen. Nach der russischen Invasion in die Ukraine ist aber auch der Hass gegen Menschen aus Russland zu spüren. Darum haben viele von ihnen mittlerweile Angst.

von Helena Truchlá, Prag

Die meisten Tschechen kennen es, das "Russische Eis". Das gibt es seit 80 Jahren zu kaufen: zwei Scheiben knusprige Waffeln mit Eiscreme dazwischen. Doch nach dem Einmarsch Russlands unter Wladimir Putin in die Ukraine im Februar 2022 hat einer der größten Eishersteller Tschechiens es in "Ukrainisches Eis" umbenannt. Als Zeichen der Solidarität wird das "Russische Eis" aus den Supermärkten verschwinden.

In Tschechien, wie auch in anderen europäischen Ländern, gibt es seit dem Kriegsanfang eine Welle der Sympathie für alle Ukrainer. Mehr als 200.000 Flüchtlinge haben sich mittlerweile in Tschechien registriert. Auch die Umbenennung des Eises – eine schlaue Werbeaktion – wurde allgemein begrüßt. Gleichzeitig bietet die aufgeheizte Atmosphäre rund um den Ukraine-Krieg aber Raum für starke antirussische Emotionen. Sowohl die in Tschechien lebenden Russen als auch die tschechische Polizei berichten von beschmierten oder eingeschlagenen Schaufenstern russischer Läden, von verbalen Angriffen und anonymen Drohungen in den sozialen Medien.

"Geh zurück"

"Die Nachbarn haben mich bedrängt, zurück in Putins Russland zu gehen, weil ich hier nichts verloren hätte", sagt der 40-jährige Igor* dem MDR. Igor verurteilt die russische Aggression, arbeitet seit vielen Jahren in Prag und fühlt sich hier zu Hause.

Offiziellen Statistiken zufolge lebten im Februar in der 10 Millionen Einwohner zählenden Tschechischen Republik etwa 45.000 Russen. Und darüber hinaus noch viel mehr Menschen, deren russischer Name oder Akzent eine Herkunft aus Russland vermuten lässt.

Der Einmarsch sowjetischer Truppen während des Prager Frühlings 1968 wirkt bei älteren Menschen in Tschechien bis heute nach und sorgt für antirussische Ressentiments. Bildrechte: imago images/Sovfoto \ UIG

Vor allem unter älteren Tschechen wurde die russische Nation schon vor dem heutigen Krieg mit dem Einmarsch von Warschauer Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968 in Verbindung gebracht. Seit 1948 herrschte in der Tschechoslowakei eine kommunistische Diktatur. Als 1968 versucht wurde, diese zu reformieren, ordnete die sowjetische Führung in Moskau den Einmarsch an. Sowjetische Truppen blieben dann bis Anfang der 1990er Jahre im Land. Die Ansicht, dass ‘aus Russland nie etwas Gutes kommt’, verschwand bei vielen Menschen nie. "Und jetzt ist die antirussische Stimmung in der Gesellschaft noch stärker geworden," sagt Igor. 

Schriftliche Erklärung

Der Besitzer eines russischen Lebensmittelladens im Prager Stadtteil Stodůlky, in dem auch eine große russische Minderheit lebt, zog es vor, das Schild mit der Aufschrift "Russisch" von seinem Geschäft selbst zu entfernen. Er befürchtete, dass jemand seine Schaufensterscheibe beschmieren oder zertrümmern würde, wie es bereits bei einem anderen Geschäft im selben Viertel geschehen war. Außerdem beklagt er, dass sein Umsatz in den letzten Wochen zurückgegangen ist. 

An einem Lebensmittelgeschäft in Prag stand bis vor kurzem "Russischer Laden". Der Besitzer hat den Schriftzug zu "Guter Laden" abgeändert. Bildrechte: MDR/Bára Procházková

Würde der Russe Igor jetzt eine Wohnung in Prag kaufen wollen, müsste er bei einigen Verkäufern Bedingungen erfüllen, die für Tschechen nicht gelten. Manche Firmen haben angekündigt, von russischen Bürgern eine schriftliche Erklärung anzufordern, in der diese den Einmarsch in die Ukraine verurteilen. "Ich schätze, sie wissen nicht, dass wir Familien in Russland haben, dass wir sie besuchen wollen und dass wir für eine solche Aussage direkt am Flughafen verhaftet werden können", sagt die 29-jährige Mascha* aus Russland verbittert. Nach ihren eigenen Worten hat sie es in den letzten Wochen sogar vorgezogen, in der Öffentlichkeit kein Russisch mehr zu sprechen, um Konfrontationen zu vermeiden. 

Juristen halten ein solches Vorgehen von Wohnungsverkäufern für diskriminierend, und es ist unwahrscheinlich, dass eine solche Forderung bei einem Immobilienverkauf vor Gericht Bestand hätte. Das Signal ist aber deutlich. Der vom tschechischen Abgeordnetenhaus gewählte Ombudsmann Stanislav Křeček hat bereits vor "eigenmächtigen Sanktionen" im Zusammenhang mit antirussischen Stimmungen gewarnt. Bisher hat die Polizei jedoch noch keine Fälle von physischen Angriffen registriert, sagte Polizeisprecher Ondřej Moravčík dem MDR. 

Am 26. März versammelten sich mehrere hundert Menschen unter dem Motto "Russen gegen Putin" zu einer Demonstration in der Prager Innenstadt. Bildrechte: IMAGO

Die Familien in Russland

Die in Tschechien lebenden Russen stehen jetzt auch von anderer Seite unter Druck, da viele von ihnen Verwandte in Russland haben. "Ich rufe meine Großmutter in Russland regelmäßig zum Internationalen Frauentag am 8. März an. Ich gebe zu, dass ich nicht den Mut hatte, mit ihr direkt über den Krieg zu sprechen und sie nach ihrer Meinung zu fragen", gesteht Kirill Ščeblykin, ein junger Russe mit tschechischer Staatsbürgerschaft aus Prag. 

"Meine Familie glaubt, was im russischen Fernsehen gesagt wird. Ich will überhaupt nicht mit ihnen darüber reden", beschreibt auch Mascha. Zusätzlich zu möglicher Verfolgung in Russland fürchtet sie auch, dass sie ihre Aufenthaltserlaubnis in Tschechien verlieren könnte. Die Sorge ist nicht ganz unbegründet: Denn die Regierung nimmt seit kurz nach der Invasion Russlands in die Ukraine bis auf humanitäre Ausnahmen keine russischen Visaanträge mehr an. Außerdem kündigte sie eine "Welle gründlicher Überprüfungen der bereits erteilten Aufenthaltsgenehmigungen" an. 

Die Tschechen sollten trotz der angespannten Situation eines nicht vergessen, betont die Analystin Tereza Soušková vom renommierten Prager Think Tank "Verband für Internationale Angelegenheiten". Nämlich, dass nicht alle Russen unbedingt Anhänger Putins oder des Krieges seien: "Viele von ihnen helfen aktiv den hier ankommenden Ukrainern oder organisieren Veranstaltungen gegen den Krieg", so Soušková. "Unter solchen Umständen bin ich trotz allem stolz darauf, Russin zu sein," sagt Mascha. "Denn für mich bedeutet Russisch-Sein auch, in schwierigen Situationen mutig zu bleiben", fügt sie hinzu.

*Die Namen wurden auf Wunsch der Personen von der Redaktion geändert.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 10. März 2022 | 22:10 Uhr