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Bereits kurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine saßen Kiew und Moskau wieder am Verhandlungstisch. Die jüngsten Gespräche fanden Ende März in Istanbul statt (Foto). Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Ukraine-KriegWas Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau bringen könnten

07. April 2022, 09:54 Uhr

Die Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg gehen weiter. Allerdings waren auch vor Bekanntwerden der Ausmaße des Massakers von Butscha aus Sicht vieler Ukrainer die Erwartungen im Westen zu hoch. In der Ukraine sind viele skeptisch.

von Denis Trubetskoy, Lwiw

Seit mehr als fünf Wochen führt Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch die Ukrainer, die sich in vergleichsweise ruhigen Regionen des Landes aufhalten, haben geahnt, wie tragisch die Lage in Kiews nordwestlichen Vororten wie Irpin und Butscha war. Die schrecklichen Bilder aus Butscha, die an einen Film über die Apokalypse erinnern, haben die Ukrainer jedoch am Wochenende in einen weiteren, noch schwereren Schock versetzt. "Ich will nicht wissen, wie dann die Fotos und Videos aus Mariupol aussehen werden", sagt etwa eine Kassiererin in Lwiw. "Ein Kompromiss mit Russland ist unter diesen Umständen unmöglich."

Erwartungen an einen Sieg nach Butscha gewachsen

Schon vor dem Abzug der russischen Armee aus Butscha gaben sich die Ukrainer durchaus siegessicher. Laut der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Rating Group glaubten 93 Prozent an einen Sieg gegen Russland. Die Frage war jedoch auch da schon, wie man "Sieg" definiert. Während es für einige ausgereicht hätte, wenn sich Russland auf die faktischen Grenzen von vor dem 24. Februar zurückziehen würde und auch die Ukraine einige Zugeständnisse machen würde, gab es auch Menschen, für die ein richtiger Sieg erst mit der Rückgabe der annektierten Krim-Halbinsel sowie der seit 2014 besetzten Donbass-Gebiete erreicht wäre. Es scheint, als sei die zweite Fraktion nach den Bildern aus Butscha größer geworden. Und so wird der schwierige Prozess der Friedensverhandlungen, der vorige Woche in Istanbul Fortschritte gemacht hat und von den westlichen Medien mit viel Optimismus wahrgenommen wurde, nun noch einen Tick komplizierter.

Militärische Ausgangslage für einen Kompromiss

Die militärische Ausgangslage ist seit einigen Wochen im Grunde relativ unverändert. Dass die russische Armee ihre Kräfte aus den Bezirken Kiew und Tschernihiw offenbar tatsächlich abgezogen hat, hat sicher weniger mit einer humanitären Geste als mit der klaren Niederlage in der Schlacht um Kiew zu tun. Die Einnahme der Hauptstadt dürfte in den ersten Kriegstagen zu den Hauptzielen Russlands gezählt haben. Gleichzeitig werden die abgezogenen Truppen sicher in den nächsten Tagen im Osten des Landes auftauchen. Im Süden macht Russland unverändert Geländegewinne in den Bezirken Cherson und Saporischschja und bereitet der ukrainischen Armee weiterhin Probleme im Donbass, wo Mariupol eingekesselt ist. Die russischen Truppen haben es jedoch bisher nicht geschafft, eine größere Stadt einzunehmen. Und vor Slawjansk und Kramatorsk im Bezirk Donezk, deren potenzielle Verteidigung die Ukraine bereits seit 2014 vorbereitet, stünde die russische Armee vor großen Herausforderungen. Daher braucht sie im Donbass tatsächlich dringend Verstärkung.

Ukraine-Karte mit AKW und stark umkämpften Städten. Bildrechte: MDR

Es hat also keine der beiden Seiten einen deutlichen militärischen Vorteil. Das könnte darauf hindeuten, dass der Krieg lange bis sehr lange dauern könnte. Die Ressourcen der beiden Seiten sind jedoch begrenzt – und es ist alles andere als gesetzt, dass ein langer Krieg für Russland von Vorteil wäre. Daher sollte auch der Kreml Interesse an einem Kompromiss haben. Allerdings zweifeln viele Beobachter daran, dass der russische Präsident Wladimir Putin noch in der Lage ist, rational zu denken. So wird Russland seine Offensive vorerst höchstwahrscheinlich fortsetzen und versuchen, die starke ukrainische Militärgruppierung im Donbass einzukesseln, um dann weiterzukommen. Dafür benötigten die russischen Truppen eben die Verstärkung von Einheiten, die sie jetzt um Kiew herum abgezogen haben. Allerdings könnte es sein, dass sie im Donezbecken gleich an Slawjansk und Kramatorsk scheitern, und auch sonst ist ein Weiterkommen der russischen Armee im Süden fraglich.

Mögliche Kompromisse in Friedensverhandlungen

Die jeweils aktuelle militärische Lage spielt natürlich in die Friedensverhandlungen hinein, sollte die Ukraine nach dem Massaker von Butscha an diesen überhaupt noch teilnehmen wollen – Präsident Wolodymyr Selenskyj signalisiert sein Interesse an Verhandlungen, doch die öffentliche Meinung hat sich stark in Richtung weniger Kompromissbereitschaft gedreht. Die sogenannte "Entnazifizierung und Entmilitarisierung" sind sehr weit auslegbare Forderungen Russlands. Moskau könnte im Grunde jederzeit behaupten, diese mit den bisherigen Militäraktionen erreicht zu haben. Gleichzeitig wird die Ukraine weder die Krim als russisch noch die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängig anerkennen. Je nach militärischer Lage wären hier allerdings Zwischenlösungen denkbar, bei denen etwa das ukrainische Militär die gesamten Bezirke Donezk und Luhansk verlässt, ohne die selbsternannten Quasirepubliken anzuerkennen.

Das Gleiche gilt je nach militärischer Lage für das Verbot der Stationierung einiger Waffenarten. Seit den ersten Kriegstagen signalisiert die Ukraine dagegen, in Fragen der militärischen Neutralität und des Nichtbeitritts zur NATO verhandeln zu wollen. Kiew fordert in dem Fall allerdings belastbare Sicherheitsgarantien von den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates sowie von Ländern wie der Türkei und Deutschland. Diese sollten im Fall eines Angriffs auf die Ukraine eine dreitägige Frist zur Beratung haben und sich verpflichten, Waffen an die Ukraine zu liefern und eine Flugverbotszone über dem Land einzurichten. Dass Russland ein derartiges Abkommen unterschreibt, ist eher unwahrscheinlich, denn der Unterschied zum Bündnisfall, der in Artikel 5 des NATO-Vertrags festgeschrieben ist, wäre dann nicht sehr groß. Und auch die USA scheinen etwas skeptisch zu sein. Dennoch könnte bei Verhandlungen über Sicherheitsgarantien das Fundament für einen Kompromiss gelegt werden. Allerdings sollte niemand sich der Illusion hingeben, dieser Krieg könnte schnell vorbei sein.

Denn weder die ukrainische, noch die russische Bevölkerung, deren Stimmung durch die aggressive russische Kriegspropaganda aufgeheizt wurde, ist zu einem Kompromiss bereit. Die jüngsten Verhandlungsergebnisse, in denen Moskau unter anderem zusagte, seine Militäraktivität in der Ukraine zu reduzieren, haben in Russland durchaus auch Gegenwind erzeugt. Zudem bleibt es fraglich, was die russische Regierung mit den besetzten südukrainischen Städten wie Cherson und Melitopol vorhat. Die Versuche, dort ein Besatzungsregime zu etablieren, sind bisher wenig überzeugend. Russland könnte daher vorschlagen, die Kontrolle über diese Gebiete gegen die Anerkennung der Krim und der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu tauschen. Die Antwort Kiews darauf würde aber sicher negativ ausfallen.

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 02. April 2022 | 11:17 Uhr