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Passanten auf dem Roten Platz in Moskau mit der Basilius-Kathedrale im Hintergrund. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Russland-Ukraine-KonfliktWie man in Russland über den Ukraine-Konflikt denkt

23. Februar 2022, 18:37 Uhr

Die Anerkennung der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk hat weltweit heftige Reaktionen ausgelöst. Politiker geben offizielle Erklärungen ab, Politologen analysieren, Experten diskutieren. Doch was denken die sogenannten "einfachen Russen" darüber?

von Daria Boll-Palievskaya

Unsere Kollegin, die deutsch-russische Journalistin Daria Boll-Palievskaya, hat mit Menschen aus ganz Russland darüber gesprochen, was sie über die Anerkennung der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk in der Ostukraine durch Russland und die Entsendung russischer Truppen dorthin denken. Nicht alle Gesprächspartner waren bereit ihre Nachnamen zu nennen.

Jelena (63), Rentnerin, Irkutsk: "Einfache Menschen wollen keinen Krieg"

Es ist eine Katastrophe, eine Tragödie für die Menschen, die dort leben. Obwohl wir weit von ihnen entfernt sind, kann ich nicht gleichgültig bleiben. Ich glaube, dass das alles geplant war, um die russische Wirtschaft zu ruinieren. Einfache Menschen wollen keinen Krieg, den Krieg wollen die da oben, diejenigen, denen die Welt gehört.  

Michail (46), Violinist aus St. Petersburg: "Die einseitige Berichterstattung der europäischen Presse ist unerträglich"

Wenn die russische Armee den Krieg in der Ostukraine stoppt, ist es nur zum Besten, auch wenn die sogenannte "Weltgemeinschaft" empört reagiert. Die einseitige Berichterstattung der europäischen Presse ist unerträglich, ebenso wie die Tatsache, dass immer die Russen, oder schlimmstenfalls China, an allem schuld sind. Politische Doppelzüngigkeit ist in der EU allgemein an der Tagesordnung. Also ja, ich unterstütze die Entscheidung von Putin.

Ekaterina Leontjewa (51), Kleinunternehmerin, Moskau/ Neuss: "Sie glauben alles, was Putin sagt"

Ich habe Kunden in vielen Städten Russlands, von Murmansk bis Petropawlowsk-Kamtschatski, von Kasan bis Chabarowsk. Und wissen Sie, was sie mir alle sagen? "Wir haben es Euch gezeigt! Wir werden uns von Euch nicht brechen lassen!" Damit meinen sie den Westen. Sogar Menschen aus Rostow am Don, die bereits unter dem Zustrom von Flüchtlingen ächzen, (dort werden Flüchtlinge aus Donezk und Luhansk inzwischen sogar in Schulen untergebracht), wiederholen dies wie Zombies. Sie glauben alles, was Putin sagt. Die staatliche Propaganda scheint effizient zu sein. Ich habe sowieso den Eindruck, dass die intellektuelle Elite das Land schon vor langer Zeit verlassen hat. Von meinen 75 ehemaligen Studienkollegen sind nur noch acht in Moskau geblieben.

Veronika (66), Kosmetikerin, Rostow am Don: "Die Menschen in den beiden Republiken werden beschossen, gedemütigt"

Ich bin für die Anerkennung der beiden Republiken, aber nicht für ihren Anschluss an Russland. Ich weiß, was dort vor sich geht, nicht aus dem Fernsehen, sondern aus erster Hand. Bei uns leben viele Flüchtlinge. Seit acht Jahren werden die Menschen dort beschossen, gedemütigt, es gibt keine Arbeit, sie leben unter der Armutsgrenze. Die Erklärung des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, dass sein Land wieder eine Atommacht werden will, hat das Fass zum Überlaufen gebracht.

Alexej Aleschkowskij (54), Drehbuchautor und Blogger, Moskau: "Russland demonstriert Souveränität"

Für mich als Drehbuchautor war das eine Überraschung, und zwar in einem dramaturgischen Sinne: Die Lösung ist völlig unerwartet und gleichzeitig absolut logisch, so als würde man den gordischen Knoten der panischen Spannung durchschlagen. Aus humanitärer Sicht ist dies eine Möglichkeit, die Zivilbevölkerung vor den Schrecken eines seit acht Jahren dauernden Krieges zu befreien. Politisch gesehen ist es nur ein weiterer Zug im großen Spiel, der Russland einen weiteren Positionsvorteil verschafft. Für Russland ist es eine Demonstration der Souveränität. Aus irgendeinem Grund glaubt der Westen fälschlicherweise, dass nur die Ukraine Unabhängigkeit braucht, Russland aber nicht. Ansonsten hat Putin in seiner brillanten Rede alles sehr gut dargelegt.

Dimitrij (40), Opernsänger, Jaroslawl: "Keine andere Möglichkeit als die Anerkennung"

Wenn dies dazu beiträgt, eine Eskalation des Konflikts zwischen den ukrainischen Machthabern und der Bevölkerung dieser Republiken, die diese Macht nicht anerkennen will, zu vermeiden, dann ist dies sicherlich ein positiver Schritt. Das wird die Zeit zeigen. Das müssen Menschen entscheiden, die dort leben. Wenn die Politik in der Ukraine seit 2014 nicht in der Lage ist, sich mit der Führung der Republiken friedlich zu einigen und eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung zu finden, gibt es wahrscheinlich keine andere Möglichkeit als die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit.

Nikolaj (45), Geschäftsmann, Moskau: "Putin hat seine eigene Logik"

Wie man in Russland so schön sagt: "Der Kerl hat gesagt, der Kerl hats getan." Putin hat nach folgendem Prinzip gehandelt: "Und was werdet ihr jetzt tun?" Denn er weiß, Europa kann auf russisches Gas nicht verzichten. Und wir werden jedes Jahr fünf oder sieben Milliarden Dollar für unsere "Freunde" in Luhansk und Donezk ausgeben, die Wirtschaft wird stagnieren, die Bevölkerung weiter verarmen. Aber wir haben ja noch nie reich gelebt, warum sollen wir uns daran gewöhnen? Zuerst dachte ich, dass diese Truppen an den Grenzen zur Ukraine, diese ganzen Spannungen, dass all das geschieht, damit die NATO und der Westen Zugeständnisse an Russland machen. Aber Putin unterwirft sich nicht unserer Logik, er hat seine eigene Logik.

Maria (40), Musikerin, Moskau: "Ich bin gegen die Entsendung von Truppen"

Ich verstehe nicht, warum es zu dieser Eskalation des Konflikts kommt und warum wir uns überhaupt in die Streitigkeiten anderer einmischen müssen. Ich bin für eine friedliche Lösung und gegen die Entsendung von Truppen. Ich habe auch nicht verstanden, warum die Krim an Russland angeschlossen wurde. Für mich persönlich hatte das nichts weiter zur Folge als die Verringerung meines Einkommens und die Einschränkung der Reisemöglichkeiten. Diesmal werden die Verluste noch größer sein. Die Preise steigen täglich, der Euro und der Dollar steigen, die Einkommen sinken entsprechend. Alle Nachrichten erinnern mich an den Film "Wag the Dog". Ich habe das Gefühl, dass wir Statisten in einer billigen Serie mit einem grottenschlechten Drehbuch und einer mittelmäßigen Regie sind.

Andrej (64), Dolmetscher aus Moskau: "Putin braucht einen Krieg um seine Stärke zu demonstrieren"

Als ich Geschichte und Archivwesen studiert habe, hatten wir einen Kurs "Alternative Geschichte". Dort mussten wir Prognosen erstellen, wie die Geschichte hätte verlaufen können, wenn die Dinge anders gelaufen wären. Ich spreche jetzt mit vielen meiner ehemaligen Studienkollegen, und sie sagen alle, dass sie diese Entwicklung schon lange erwartet haben. All dies wird getan, damit Putin in die nächste Amtszeit als Präsident gehen kann. Er braucht einen Krieg, einen scharfen Konflikt, um seine Stärke zu demonstrieren. Und seine Popularität wird bestimmt nur noch steigen. Man muss sich die Mentalität der Menschen in Russland vor Augen halten. Ich kann seine Logik nicht nachvollziehen. Er hat doch von der NATO verlangt, keine Raketen in Osteuropa zu stationieren, doch durch sein Handeln haben sie jetzt einen Freibrief dafür. Taktisch hat er vielleicht gewonnen, aber strategisch hat er verloren.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 22. Februar 2022 | 19:50 Uhr