Verhandlungsrunde "Neutraler" Status für die Ukraine - was würde das bedeuten?

29. März 2022, 21:29 Uhr

Im Fokus der russisch-ukrainischen Verhandlungen steht ein möglicher neutraler Status der Ukraine. Klar ist: Eine ukrainische Mitgliedschaft in der Nato wäre damit vom Tisch. Doch welche Bündnisse eine "neutrale" Ukraine darüber hinaus eingehen könnte, ist umstritten. Experten beantworten für MDR AKTUELL die wichtigsten Fragen.

In Istanbul haben sich erneut Vertreter der Ukraine und Russlands getroffen, um über Bedingungen für ein Ende des Krieges zu verhandeln. Die ukrainische Delegation legte dabei einen Vorschlag auf den Tisch, wonach die Ukraine unter bestimmten Bedingungen einem neutralen Status zustimmen würde. Das wiederum ist seit Wochen eine Hauptforderung Russlands, um den Krieg zu beenden.

Doch was bedeutet in diesem Zusammenhang "Neutralität"? Und: Kann sie die Lösung sein? Fragen an Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik und Johannes Varwick, Lehrstuhlinhaber für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Was bedeutet "Neutralität" im Ukraine-Kontext?

Claudia Major: "Ich glaube, dass Schweden ein sehr interessantes Beispiel ist, weil sich Schweden nicht als neutral bezeichnet, sondern sozusagen als "non-aligned". Das heißt, die sind keinem Bündnis wie der NATO beigetreten. Sie sind aber nicht neutral, sie sind Mitglied in der EU, und die EU hat eine Beistandsklausel, die vergleichbar der Beistandsklausel der NATO ist. Das heißt, wenn man solch ein Verständnis von Neutralität zugrunde legen würde, wäre die Ukraine bestimmt glücklich."

Johannes Varwick: "Da geht es definitiv um eine Form der gestärkten Neutralität. Die Ukraine wird nicht akzeptieren, einfach 'nur neutral' zu sein. Sie wird einerseits freiwillig anerkennen, dass das Land nicht vollständig ins westliche Lager kippt, anderseits aber als souveräner Staat bestehen bleibt. Bei dieser Variante müssen Drittstaaten mit Garantien unterstützen. Und genau das ist das Problem. Für eine echte Sicherheitsgarantie bräuchte es die Mitgliedschaft in der NATO. Das wird Russland aber nicht akzeptieren. Daher braucht es darüber hinaus eine politische Lösung, die beide Seiten wirklich im Konsens akzeptieren. Und dazu gehört die Klärung der Frage, wie es mit dem Status der Krim und der russischsprachigen Gebiete in der Ukraine weitergeht."

Verstehen beide Kriegsparteien wirklich das Gleiche unter "Neutralität"?

Claudia Major: "Das ist nicht ganz klar. Russland hat heute noch mal bestätigt, dass sie immer noch das Ziel der Entmilitarisierung der Ukraine haben. Das heißt wirklich, die militärischen Strukturen der Ukraine abzuräumen. Und auch die 'Entnazifizierung', das heißt eigentlich auch einen Wechsel des politischen Systems anstreben. Das heißt, Russland scheint einen sehr weiten Begriff von Neutralität zu haben: keine Mitgliedschaft in der Nato, keine militärischen Anlagen. Für die Ukrainer stellt sich die Frage, was sie unter Neutralität verstehen. Sie haben angeboten, dass man über den Nato-Beitritt reden kann, aber die Ukraine möchte gerne Mitglied der EU werden, die auch eine Militär- und Sicherheitspolitik und auch eine Beistandsklausel hat. Das heißt, man kann erst mal über den Begriff 'Neutralität' sprechen. Aber wie man ihn füllt, da sind die beiden ziemlich weit auseinander."

Russland scheint einen sehr weiten Begriff von Neutralität zu haben: keine Mitgliedschaft in der Nato, keine militärischen Anlagen.

Claudia Major Stiftung Wissenschaft und Politik

Johannes Varwick: "Die Ukraine will ein Signal, dass sie nicht allein ist und von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird. Russland will die Ukraine als eine Art Sicherheitsgürtel um sich herum haben. Die Tragik ist, dass so eine Lösung schon vor dem Krieg erreichbar gewesen wäre, wenn sich der Westen und die Ukraine stärker bewegt hätten. Der bisher so symbolisch aufgeladene Punkt der NATO-Mitgliedschaft ist ja jetzt eigentlich kein Thema mehr. Die Frage ist: Wie weit wird Russland sich jetzt bewegen?"

Wie sicher wäre so ein neutraler Status für die Ukraine?

Claudia Major: "Wichtig ist: Das ist ja eine Paketlösung. Zum einen mit der Frage der Grenzen: In welchen Grenzen wird die Ukraine in Zukunft bestehen? Wird sich Russland von den besetzten Gebieten zurückziehen? Das ist ja nicht gelöst. Und die Ukraine sagt: wir können über Neutralität reden, wenn jemand unsere Sicherheit garantiert, nur dann lassen wir uns darauf ein. Und die Frage ist auch nicht gelöst. Das heißt, wir müssen die Paketlösung sehen: Neutralität, Sicherheitsgarantien und Grenzen."

Johannes Varwick: "Sicherheitsgarantien sind immer relativ. Da ist nichts in Stein gemeißelt. Nichts kann für ewig garantiert werden. Wer heute mein Freund ist, kann morgen mein Feind sein. Und militärisch wird sich Neutralität gegen Russland ohnehin nicht sichern lassen. Es könnte aber ein Frieden erreicht werden, der erst mal trägt - der den Konflikt einfriert. Dafür braucht es aber eine von allen Seiten akzeptierte politische Lösung und keinen Scheinfrieden, der bei nächster Gelegenheit in Frage gestellt wird."

Was ist von den Verhandlungen zu erwarten? Kann die Idee der Neutralität der einzige Weg sein?

Claudia Major: "Ich finde das ganz wichtig zu unterscheiden, dass wir einen militärischen Konflikt haben, den man mit einem Waffenstillstand beenden kann. Und wir haben aber dahinter einen viel größeren politischen Konflikt. Und das ist die Zukunft der Ukraine. Wie souverän, wie eigenständig wird die Ukraine sein? Wie viel will Russland probieren, mitzureden? Denn wenn man von Neutralität spricht, steht dahinter eigentlich, dass Russland in der Politik der Ukraine mitreden will. Es will darüber bestimmen, in welchen Bündnissen die Ukraine sein darf und wo nicht. Das heißt, die politische Frage ist: Wie frei, wie eigenständig, in welchen Grenzen wird die Ukraine in Zukunft bestehen? Dieser Konflikt ist viel länger und wird viel schwieriger zu bearbeiten sein, als beispielsweise jetzt erst mal eine temporäre Waffenruhe auszuhandeln. Da wird uns noch sehr viel bevorstehen. Leider."

Ich sehe keine andere Lösung als die Neutralität der Ukraine und die Hinnahme von Gebietsverlusten.

Johannes Varwick Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Johannes Varwick: "Ich sehe keine andere Lösung als die Neutralität der Ukraine und die Hinnahme von Gebietsverlusten. Außer, dass Russland die Ukraine komplett von der Landkarte tilgt. Das ist aber offenbar kein realistisches und erreichbares Kriegsziel mehr für Russland, durch den starken Widerstand der Ukraine und der Unterstützung durch die westlichen Partner. Dieser Verlauf und die westlichen Sanktionen haben die Kompromissbereitschaft von Russland definitiv größer werden lassen."

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 29. März 2022 | 17:00 Uhr

5 Kommentare

Eulenspiegel am 31.03.2022

Ich denke wir müssen langfristig denken. Vor allem ist die Erkenntnis wichtig Putin ist hier das Problem und nicht die Russische Nation. Und wirklichen Frieden kann es hier nur ohne Putin geben.

Eulenspiegel am 31.03.2022

" Auch für das Baltikum wäre ein solcher Schritt wünschenswert."
Wenn der Baltikum das wünscht. Danach sieht es aber nicht aus. Ich denke der Baltikum ist froh und glücklich das sie vor Putins Überfall geschützt ist.

Basisdemokrat am 30.03.2022

Das sind zwei lustige Kommentare zu einem ernsten Thema. Aber die Ukraine hat nun mal nicht Russland überfallen, und die Nato auch nicht. Daher muß Russland kapitulieren und alle Truppen zurückziehen. Eine gute Chance für Frieden sehe ich erst dann, wenn das Putin-Regime aus dem Kreml verschwunden ist.

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