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Blick auf die ostukrainische Stadt Charkiw, hier eine Aufnahme von 2020. Bildrechte: IMAGO / Vitalii Kliuiev

Leben an der KonfliktlinieOstukraine: Die Angst vor Russland nimmt zu

29. Januar 2022, 18:35 Uhr

Das ostukrainische Charkiw liegt gut 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt und damit so nah wie keine andere Millionenstadt an der ukrainisch-russischen Konfliktlinie. In den vergangenen Monaten wurden entlang der russischen Grenze fast 100.000 Soldaten zusammengezogen. Wie bedroht fühlen sich die Menschen in Charkiw und wie denkt man dort über einen Beitritt zur Nato? Ein Interview mit Brigitta Triebel, die in Charkiw das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung leitet.

Frau Triebel, wie ist die Stimmung in Charkiw?

Brigitta Triebel: Die russische Bedrohung fühlt sich gerade realer an als noch Ende 2021. Man hat hier in Charkiw gehofft, dass durch die Gespräche zwischen den USA und Russland eine Deeskalation der Lage eintreten würde, doch ist das nicht geschehen. Hinzu kommt: Je mehr über mögliche Szenarien einer militärischen Invasion geredet wird, bei denen häufig auch Charkiw genannt wird, umso größer wird die Unruhe in der Bevölkerung und bei mir.

Treffen die Menschen Vorbereitungen, um im möglichen Angriffsfall schnell zu fliehen? Packen sie Notkoffer, gibt es Hamsterkäufe?

Das Leben in Charkiw läuft ganz normal weiter, die Bedrohung bestimmt aber mittlerweile jedes Gespräch. Von den einen höre ich, dass sie überlegen, wohin sie im Ernstfall fliehen könnten, vielleicht zu Verwandten in die Westukraine oder nach Kiew. Andere sagen, sie wollten in einem solchen Fall ihre Stadt verteidigen. Doch es gibt bislang keine Hamsterkäufe oder beispielsweise Menschenschlangen vor den Banken, um Geld abzuheben. Es herrscht keinerlei Panik.

Augenzeugen berichten, dass in Charkiw an den Wochenenden Freiwillige in Parks und auf Freiflächen für den Ernstfall üben würden. Erleben Sie Ähnliches?

Auf Plakaten in der Stadt wird derzeit für die staatlichen Einheiten der territorialen Verteidigung geworben, die Übungen für Freiwillige anbieten. Sie werden in ganz unterschiedlichen Dingen geschult: Wie löscht man Feuer? Wie kann man sich auf einen militärischen Konflikt vorbereiten? Es gibt auch Schießübungen. Zudem hat man in Charkiw die Sirenen überprüft, ebenso ob die Bunker und Schutzräume, die es hier aus der Sowjetzeit noch gibt, intakt sind und die Karten dafür aktualisiert. Ich beobachte aber auch, dass alle staatlichen Stellen versuchen, der Bevölkerung Ruhe zu vermitteln und zu signalisieren, dass man deutlich besser als 2014 auf mögliche Konflikte vorbereitet ist.

2014 gab es in Charkiw Umsturzversuche von pro-russischen Kräften, die aber anders als in Luhansk und Donezk vereitelt werden konnten. Spült die derzeitige Bedrohungslage all das wieder hoch?

Die Lage weckt bei vielen die Erinnerung an 2014. Ich spüre bei den Menschen auch ein gewisses Gefühl von Resignation und Hilflosigkeit, dass man in Charkiw seit Längerem Teil eines geopolitischen Konfliktes ist. Das hat immense Folgen für die wirtschaftliche und demographische Entwicklung dieser Region, die seit Jahren als potenzielle Konfliktregion gehandelt wird. Es werden hier nur wenige große, zukunftsträchtige Investitionen getätigt. Auch denken viele junge Menschen an Abwanderung, weil sie nicht wissen, wie ihre Zukunft in der Ostukraine aussieht. Zudem leben in Charkiw inzwischen mehr als 120.000 Kriegsflüchtlinge aus dem Donbass, von denen jetzt viele sagen, nun stünden sie wieder vor der Situation, nicht zu wissen, was die nahe Zukunft bringt.

Könnte es in Charkiw erneut zu pro-russischen Umsturzversuchen kommen?

Das halte ich für unwahrscheinlich. Die Menschen in Charkiw wollen in Frieden leben und sie sehen, was der Militärkonflikt in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk gebracht hat und immer noch bewirkt. Die Umsturzversuche von 2014 haben auch gezeigt, dass es in der Stadt eine engagierte Zivilgesellschaft gibt, die schnell Unterstützung und Hilfe organisieren kann. Das sieht man auch heute als große Stärke an.

CharkiwDie ostukrainische Stadt - die zweitgrößte des Landes - zählt rund 1,5 Millionen Einwohner. Im März 2014 kam es zu mehrtägigen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen pro-russischen Demonstranten und Unterstützern des Euromaidan. Der gleichnamige Oblast Charkiw bildet die nördliche Grenze mit Russland, hat aber auch eine lange Grenze zum Donbass. In der Region spricht man Russisch und Ukrainisch.

Experten wie der ukrainische Politikwissenschaftler Wolodymyr Fessenko vermuten, dass Kremlchef Putin möglicherweise Charkiw einnehmen will. Was macht die Stadt so attraktiv für Russland?

Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine, eine der leistungsstärksten Industrieregionen des Landes und das urbane Zentrum im Osten des Landes. Schon in der Zeit der Sowjetunion war diese Region von großer Bedeutung. Zudem gab es vor 2014 in der Region Charkiw einen intensiven Grenzverkehr zwischen Russland und der Ukraine. Viele Menschen haben Verwandte auf beiden Seiten, es gab intensive Wirtschaftsbeziehungen. Deshalb hat der Konflikt hier auch dramatische Folgen gehabt: Nach 2014 brach der Exportmarkt ein, die Wirtschaftskontakte zu Russland wurden vollständig zurückgefahren, in den Fabriken von Charkiw wurden Stellen abgebaut. Allerdings ich bin mir nicht sicher, ob eine Großstadt wie Charkiw tatsächlich so attraktiv für eine potenzielle militärische Operation Russlands ist. Es wäre sehr schwer, sie einzunehmen. 

In den rot markierten Gebieten wurden laut US-Geheimdienst und US-Militärexperten seit Frühjahr 2021 schrittweise russische Truppen zusammengezogen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Kremlchef Wladimir Putin ist gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine. Was hält man in der Region Charkiw, die unmittelbar an Russland grenzt, von einem Nato-Beitritt?

Die Meinungen sind zweigeteilt. Eine Umfrage aus dem vorigen Jahr zeigt, dass sich in der Ostukraine 33,2 Prozent für einen Beitritt zur Nato ausgesprochen haben, die Mehrheit aber - 50,4 Prozent – gegen einen Beitritt zum Bündnis. In der Westukraine und in Kiew fällt dagegen die Zustimmung für einen Nato-Beitritt deutlich höher aus. Dass die Menschen im Osten und in Charkiw deutlich verhaltener sind, hat verschiedene Gründe: Die engen vielfältigen Beziehungen zu Russland haben die Region sehr lange geprägt und grundsätzlich ist man hier kritisch gegenüber der Politik aus Kiew eingestellt. Auch wird die Frage je nach Altersgruppe unterschiedlich beantwortet. Die Generation, die in der Sowjetunion sozialisiert ist, steht der Nato und der EU skeptisch gegenüber, anders als die jüngere Generation, die sich eine europäische Ukraine wünscht. Viele junge Menschen nutzen die Visafreiheit dazu, um die EU zu bereisen und dort zu studieren.

Die USA haben angesichts des sich zuspitzenden Konfliktes den Angehörigen ihres Botschaftspersonals empfohlen, die Ukraine zu verlassen. Wie lange werden Sie vor Ort in Charkiw bleiben?

Das ist von der Entwicklung der Lage abhängig, die gerade unglaublich dynamisch ist. Wir schauen sie uns die Lage jeden Tag aufs Neue an.

Bildrechte: KAS Charkiw

Brigitta Triebelstudierte Kultur- und Politikwissenschaft und Ost- und Südosteuropäische Geschichte in Leipzig und Bratislava. Die 38-Jährige leitet seit Februar 2020 das Auslandsbüro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in der ostukrainischen Stadt Charkiw.

Vielen Dank für das Gespräch!

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL FERNSEHEN | 25. Januar 2022 | 19:30 Uhr