30 Jahre nach Grenzöffnung Ungarn: "Der 11. September 1989 ist für mich die Stunde Null"
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11. September 2019, 05:00 Uhr
In der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 fiel der "Eiserne Vorhang" zwischen Österreich und Ungarn endgültig. DDR-Flüchtlinge, die sich in Ungarn aufhielten, wurden nicht mehr in die DDR ausgewiesen, sie konnten über Österreich in die Bundesrepublik ausreisen. Bis Ende November gelangen so 60.000-70.000 DDR-Bürger über Ungarn in den Westen. Eine Gruppe von damaligen Flüchtlingen ist 30 Jahre danach mit Ost-PKWs zurück nach Ungarn gefahren, um "danke" zu sagen.
Thomas Amlacher ist mit seinem gelben Lada nach Ungarn gekommen. Mit rund 40 anderen ehemaligen DDR-Flüchtlingen will er sich 30 Jahre nach der Öffnung der Grenze bedanken. Sein Lada ist das baugleiche Auto, mit dem er es am 11. September 1989 nach Bayern, in die Freiheit schaffte.
"Ich habe ab Mai 1989 die Ereignisse sehr aufmerksam im Westfernsehen verfolgt. Ich war 25 und wegen meiner kritischen Auffassung sozusagen auf dem Index. Es war mir klar, dass ich in der DDR beruflich nicht die Zukunft habe, die ich mir vorstelle”, erzählt Amlacher. Im Sommer 1989 ist er zu deutschen Verwandten nach Rumänien gefahren und von dort nach Budapest. "In diesen Tagen gab es schon das Gerücht, dass eine diplomatische Lösung immer näher rückt, deshalb habe ich die Flucht über die grüne Grenze nicht riskiert, sondern bin ins Lager Budapest gegangen."
Dach über Kopf, Toilette, Dusche, dreimal pro Tag was zu essen, auch Verständnis. Was will ein Flüchtling mehr? Ich kann bis heute nur sagen: danke Ungarn!
Flüchtlingslager: Westdeutsche und ungarische Solidarität
Die Unterbringung und Verpflegung der Flüchtlinge wurde aus Westdeutschland mithilfe der deutschen Malteser koordiniert und finanziert. Die ungarischen Organisatoren mussten jedoch auch enorm viel tun, um eine Flüchtlingskatastrophe zu vermeiden. Mariann Czirják engagierte sich als 20-Jährige im Lager. Sie versorgte mit dem zuvor gegründeten Ungarischen Malteser-Hilfsdienst während der drei Monate mehr als 48.000 Menschen. "Der Leiter des Lager hat Kantinen, Restaurants und Hotels in Budapest angerufen und ihnen erklärt, worum es geht. Von da an brachten sie massenweise Essen, und niemand hat gefragt, wann wir zahlen werden", erinnert sich Czirják heute. Sie war 1989 Studentin und besuchte nur die wichtigsten Vorlesungen, um Tag und Nacht im Lager von Zugliget helfen zu können. "Ich sprach Deutsch, deswegen hatte ich oft Dienst im Infozelt. Oder ich habe die Kranken ins Krankenhaus gebracht, Essen oder Kleider verteilt, eingekauft, wenn Toilettenpapier oder Windeln alle waren."
Stasi-Beauftragte auch in den Lagern
Auch die Seelsorge-Arbeit war wichtig: "Ich hatte eine Musikgruppe im Lager, bestehend aus fünf ostdeutschen Jugendlichen. Einer spielte Gitarre, eine andere Flöte", erzählt Pfarrer Lajos Békefi, ehemaliger Seelsorger im Lager Csillebérc.
"Wir gingen morgens zu den Zelten, weckten die Leute mit Musik, damit sie ihre schreckliche und völlig unsichere Situation für eine Weile vergessen können. Es ist ein unvergesslicher Moment, wenn eines Morgens das ganze Lager mit uns sang. Mehrere hunderte Leute haben das gleiche Lied gesungen, während sie aus den Zelten herauskrochen. Das ist doch was, nicht wahr?", sagt er mit Tränen in den Augen. Doch viele Flüchtlinge seien schweigsam und misstrauisch geblieben, fügt er hinzu. Die Gerüchte über Stasi-Beauftragte im Lager waren allgegenwärtig.
11. September 1989: Grenze geöffnet für DDR-Bürger
Am 10. September um 19 Uhr hat der ehemalige ungarische Außenminister Gyula Horn im Staatsfernsehen angekündigt, dass die ungarische Regierung am 11. September ab 0:00 Uhr das Abkommen über den visafreien Reiseverkehr mit der DDR vorübergehend außer Kraft setzen werde und so die Ausreise von DDR-Bürgern mit ostdeutschen Reisedokumenten in Drittstaaten gestattet.
Allein bis zum 16. September 1989 verließen so insgesamt 14.000 DDR-Bürger Ungarn. Unter den ersten Thomas Amlacher. "Als ich in Bayern angekommen war, war mir ziemlich klar, es ist die Stunde Null in meinem Leben. Schon im November 1989 bin ich aber wieder in die damals noch existierende DDR gefahren und habe plötzlich verstanden, dass man Heimat und Wurzeln nicht aus dem Herzen radieren kann. So bin ich nach Jahren nach Jena zurückgekehrt. Ich lebe in einer freien Welt, ich kann die Bücher lesen, die ich will, ich kann sagen, was ich will, meine Kinder müssen keine sozialistische Schule besuchen, all das ist für mich von unschätzbarem Wert.”
Dieses Thema im Programm: MDR Zeitreise | 18. August 2019 | 22:25 Uhr