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Im Schatten der Coronavirus-KriseUngarn: Orbán bekommt nahezu unbegrenzte Macht

31. März 2020, 08:15 Uhr

Ungarn droht die Diktatur: Im Schatten der Coronavirus-Krise hat sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán noch mehr Macht gesichert, als er dank seiner parlamentarischen Zwei-Drittel-Mehrheit ohnehin schon hat. Am Montag hat das ungarische Parlament ein Ermächtigungsgesetz angenommen, das in "Gefahrensituationen" umfangreiche Machtbefugnisse für den Ministerpräsidenten vorsieht – und das ganz ohne konkretes Ablaufdatum.

von Thyra Veyder-Malberg

(UPDATE VOM 30.03.2020)

Ab jetzt kann der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán per Dekret, also ohne parlamentarische Zustimmung, regieren und Gesetze nach Belieben außer Kraft setzen. Das hat am Montag das ungarische Parlament beschlossen, indem es ein umstrittendes Notstandsgesetz angenommen hat. 138 der insgesamt 199 Abgeordneten votierten dafür und sorgten so für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit. Damit hat sich das Parlament faktisch selbst abgeschafft. Denn auch über das Ende des Notstands entscheidet nur noch die Regierung.

Es ist also ein Blankoscheck, den Orbán da erhalten hat. In der Begründung des Gesetzes heißt es, diese Befugnisse seien notwendig, falls das Parlament wegen der Pandemie nicht mehr tagen könne. Die Regierung müsste dann nur noch die Fraktionsvorsitzenden und den Parlamentssprecher von Maßnahmen in Kenntnis setzen,  dagegen tun könnten diese allerdings nichts. Offenbar rechnet Orbán fest damit, dass das Parlament demnächst nicht mehr tagen wird. Außerdem schafft das Gesetz zwei neue Straftatbestände: So soll das Verbreiten von Falschnachrichten mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Auch der Verstoß gegen Quarantäneauflagen soll mit hohen Haftstrafen geahndet werden können. Zudem dürfen bis zum Ende des Notstands keinerlei Wahlen oder Referenden stattfinden.

"Unbegrenzte Macht auf unbegrenzte Zeit"

Fachleute und Oppositionspolitiker sind entsetzt über das Gesetzesvorhaben. Das Gesetz solle der Regierung "unbegrenzte Macht auf unbegrenzte Zeit" verschaffen, brachte es Gergely Arató, von der mitte-links Partei Demokratikus Koalíció in der Parlamentsdebatte auf den Punkt. "Der zentrale Aspekt, ist dass die weitreichenden Befugnisse, die in der Verfassung für diesen Gefahrenzustand bereits vorgesehen sind, jetzt auf unbestimmte Zeit verlängert werden", sagt die Politikwissenschaftlerin Ellen Bos von der Andrássy Universität in Budapest. "Es kann ja auch sein, dass dieser Zustand monatelang oder ein Jahr lang andauert." Denn in Ungarn ist bereits ein sogenannter "Gefahrenzustand" ausgerufen worden, der der Regierung umfassende Machtbefugnisse zusichert. Allerdings müssen sämtliche Dekrete und die Fortsetzung des Notstandes alle 15 Tage vom Parlament bestätigt werden. Dieser Kontrollmechanismus fällt mit der Annahme des Ermächtigungsgesetzes auf unbestimmte Zeit weg. "Und das hat dann natürlich gravierende Auswirkungen und würde auch Folgewirkungen haben auf das Zusammenspiel der demokratischen Institutionen. Es würde die Exekutive dauerhaft stärken und das Parlament als Gegengewicht schwächen ", so Bos im Vorfeld der Abstimmung.

Keine parlamentarische Kontrolle

Die liberale Momentum Partei kritisierte das Vorhaben nicht nur im Parlament, sondern auch auf Facebook. "Die ungarische Demokratie ist in einem kritischen Zustand. Das geplante Ermächtigungsgesetz könnte ihr den Todesstoß versetzen. Orbán nutzt aus, dass die Bürger, Journalisten und Staatenlenker in anderen europäischen Ländern sich voll auf das Coronavirus konzentrieren und nicht beachten, was in Ungarn passiert", heißt es in dem Post. Die Tatsache, dass dieser Post auf deutsch erschienen ist, zeigt, dass sich die Opposition vor allem Unterstützung aus dem Ausland - etwa von der EU - erhofft. Denn im Parlament hat Orbáns Fidesz-Partei eine Zwei-Drittel-Mehrheit, mit der sie alle Gesetze im Alleingang durchbringen kann.

Ungarisches Parlamentsgebäude in Budapest Bildrechte: IMAGO

Ohne juristischen Grund

Zahlreiche NGOs und Juristen, unter ihnen etwa der ehemalige Justizminister Péter Bárándy, kritisieren, dass es keinen juristischen Grund für dieses Ermächtigungsgesetz gibt. Bereits jetzt hat die Regierung den Gefahrenzustand ausgerufen, der ihr umfangreiche Kompetenzen sichert. Diesen muss sie sich allerdings alle 15 Tage vom Parlament bestätigen lassen. "Stattdessen wurde eine Lösung außerhalb der Rechtsordnung gewählt", beklagte Bárándy dem Nachrichtenportal HírKlikk gegenüber. "Die Regierung – was in unserem System eine Person bedeutet – will sämtliche vorhandenen Beschränkungen ausschalten. Damit es kein einziges Gegengewicht gibt." Eine Onlinepetition gegen das Gesetz, die von prominenten Juristen ins Leben gerufen wurde, hat inzwischen über 90.000 Unterzeichner gefunden.

Pressefreiheit unter Druck

Die TASZ, eine NGO für Bürgerrechte, warnte ebenso wie viele andere, dass die Regierung das Gesetz zudem nutzen könne, die Meinungs- und Pressefreiheit im Land weiter einzuschränken. Der Chefredakteur des Nachrichtenportals azonnali.hu, Martin Bukovics, sieht aber bisher keine Gefahr, dass die Regierung das Gesetz dafür benutzen könnte, Journalisten einzusperren. Schließlich müsse man vor Gericht erst einen Vorsatz nachweisen. "Und in diesen Zeiten, wo Ärzte, medizinische Fachleute und Ökonomen diskutieren, was im Umgang mit der Corona-Krise das Richtige ist, kann man kaum unterscheiden was Fake News ist und was nicht."

Er sieht in dem Ermächtigungsgesetz vor allem ein Manöver der politischen Kommunikation. Nach den verlorenen Kommunalwahlen im vergangenen Oktober, als die Opposition neben der Hauptstadt Budapest auch zahlreiche kleinere Städte erobern konnte, müsse Orbán seinen Wählern zeigen, "dass die Opposition doch etwas gegen die Ungarn hat." Denn die Opposition hatte es abgelehnt, das Ermächtigungsgesetz im Eilverfahren durchs Parlament zu winken. "So kann er zeigen, dass er der einzige, der wahre Beschützer der Ungarn ist." Und tatsächlich behaupteten die regierungsnahen Medien nach der Abstimmung, die Opposition würde "auf der Seite des Virus stehen". 

Die EU reagiert besorgt

Auch bei der EU wird der Gesetzesvorstoß mit Sorge betrachtet: So mahnte die Generalsekretärin des Europäischen Rates, Marija Pejčinović Burić in einem Brief die Einhaltung demokratischer Spielregeln an. "Ein unbestimmter und unkontrollierter Notstand kann nicht garantieren, dass die Grundprinzipien der Demokratie eingehalten werden, und dass die Maßnahmen, die grundlegende Menschenrechte einschränken, in einem ausgewogenen Verhältnis zu der Bedrohung, die sie bekämpfen sollen, stehen". 

Die Antwort aus Budapest war so lapidar wie arrogant: Die Generalsekretärin solle doch erst einmal den Gesetzesvorschlag genau lesen. Wenn sie schon nicht helfen könne, solle sie zumindest die Regierung Ungarns nicht bei der Bekämpfung der Krise behindern.  

Gesundheitssystem in desolatem Zustand

Am desolaten Zustand des ungarischen Gesundheitssystems ändert dieses Ermächtigungsgesetz übrigens nichts. Das ungarische Gesundheitssystem ist seit Jahren unterfinanziert, daran hat die Regierung von Viktor Orbán seit seinem Amtsantritt 2010 nichts geändert, obwohl Fachleute, Ärzte und Krankenschwestern immer wieder darauf hinwiesen.  

Die Soziologin und Ungarn-Expertin Kim Lane Scheppele von der us-amerikanischen Eliteuniversität Princeton stellte in einer Analyse die These auf, Orbán versuche, sich bereits jetzt die Mittel zu sichern, um sich an der Macht zu halten wenn sich die der Ärger der Öffentlichkeit über das desolate Gesundheitssystem und über vermeidbare Todesfälle gegen die Regierung wendet.

(Der Artikel wurde erstmals am 27.03.2020 veröffentlicht, also vor der Parlamentsabstimmung am 30.03.2020.)

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL TV | 27. März 2020 | 17:45 Uhr

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