Umstrittene Schulreform in Polen in Kraft
Mit dem Beginn des neuen Schuljahres am 4. September ist in Polen auch die heftig umstrittene Schulreform der PiS-Regierung in Kraft getreten. Die bisherige Mittelstufe wird abgeschafft, stattdessen kehrt man zur achtjährigen Grundschule aus sozialistischen Zeiten zurück. Tausende Lehrer müssen dadurch um ihre Jobs bangen. Und auch inhaltlich gleicht die Reform einem Erdbeben: Weniger Evolutionstheorie, mehr Patriotismus. Kritiker fürchten einen Rückschritt um Jahrzehnte.
Viele Schüler, Lehrer und Eltern in Polen dürften am 4. September vermutlich mit wenig Freude ins neue Schuljahr gestartet sein. Grund ist die Schulreform der nationalkonservativen PiS-Regierung, die die Uhren im Schulwesen zurückdreht. 28 Jahre nach der Wende wird in Polen de facto das alte, sozialistische Schulsystem wieder eingeführt – bestehend aus einer achtjährigen Grundschule und darauf aufbauend weiterführenden Schulen mit Berufsausbildung oder Abitur. Die Mittelstufe, die bislang in Polen unter dem Namen Gymnasium bekannt war, obwohl sie noch nicht zum Abitur führte und nur die Klassenstufen sieben bis neun umfasste, wird abgeschafft. Landesweit werden rund 7.500 solcher "Gymnasien" aufgelöst.
Lehrerverband spricht von "schwarzem September"
Vielen Lehrern droht damit die Arbeitslosigkeit. Der polnische Lehrerverband spricht von einem "schwarzen September" und schätzt, dass landesweit rund 9.400 Pädagogen entlassen werden. Weiteren 22.000 würde den Angaben zufolge die Wochenarbeitszeit – und damit auch das Gehalt – gekürzt. Das Bildungsministerium dementiert das, will aber gleichzeitig seine eigenen Zahlen nicht öffentlich machen. Und selbst Lehrer, die ihre Jobs behalten, haben nicht immer einen Grund zur Freude. Viele bisherige Gymnasiallehrer werden jetzt in mehreren Grundschulen gleichzeitig eingesetzt, müssen also pendeln und lange Arbeitswege auf sich nehmen. Rund 300 Lehrer und Eltern folgten dem Aufruf des Lehrerverbandes ZNP, vor dem Bildungsministerium in Warschau zu demonstrieren. Das Motto lautete: "Die Schule gehört uns".
Gehaltserhöhung als Feigenblatt?
In dieser aufgeheizten Atmosphäre wartete Ministerpräsidentin Beata Szydlo mit einer auf den ersten Blick frohen Botschaft auf. Sie will eine Gehaltserhöhung für die Lehrer verkünden, hieß es im Vorfeld aus regierungsnahen Kreisen. Für viele Lehrer ist das aber nicht mehr als ein Trostpflaster für das, was die Regierung ihnen zumutet: Mit der Bildungsreform, so die Kritiker, ziehe in die Schulen Chaos ein.
Den Beteuerungen der Bildungsministerin Anna Zalewska, die Reform verbessere die finanzielle Ausstattung der Schulen und führe zu kleineren Klassen, wollen viele Pädagogen nicht so richtig Glauben schenken – zumal viele Vorbereitungen zum diesjährigen Schulstart immer noch nicht abgeschlossen sind. Zum einen fehlen immer noch viele Lehrbücher, und oft ist nicht einmal der genaue Liefertermin bekannt. Zum anderen laufen in vielen Schulen immer noch Renovierungsarbeiten.
Kritiker befürchten Rückschritt in Schubildung um Jahrzehnte
Doch nicht nur wegen der Strukturreform befürchten Kritiker, dass die Reform das Bildungssystem um Jahrzehnte zurückwirft. Auch inhaltlich werden die Uhren nach Ansicht der Reformgegner um Jahrzehnte zurückgedreht. Die PiS setze den Fokus auf ein unzeitgemäßes historisch-ideologisches Programm, mit dem sie die künftigen Generationen nach ihren Vorstellungen erziehen wolle, sagte ZNP-Chef Slawomir Broniarz.
Fach Geschichte dreht sich hauptsächlich um Polen
Kritisch betrachtet werden insbesondere die Lehrpläne für Geschichte und Biologie. Alltags- und Zivilisationsgeschichte spielen künftig in den ersten Schuljahren keine Rolle mehr, stattdessen liegt der Fokus auf der Militärgeschichte und polnischen Nationalhelden wie Papst Johannes Paul II. und Widerstandskämpfern. Weltgeschichtliche Bezüge fehlen, alles dreht sich nur noch um Polen. Entsprechend beginnt der Geschichtsunterricht der Viertklässler nicht mehr bei den alten Griechen und Römern, sondern mit Mieszko, dem ersten polnischen König im 10. Jahrhundert. In der Geschichte des Zweiten Weltkriegs wird der Holocaust nicht mehr erwähnt – dafür aber seitenweise die anti-kommunistischen Partisanen, die unmittelbar nach dem Krieg gegen das Regime gekämpft hatten.
Darwin und die Evolutionstheorie verschwinden
Ein weiterer Streitpunkt ist der Biologieunterricht. Biologen von der Polnischen Akademie der Wissenschaften kritisierten, dass die Evolutionstheorie von Darwin in der Grundschule kaum noch eine Rolle spielen werde. "Ein Biologieunterricht ohne Evolution wird zu einer Sammlung zusammenhangsloser Tatsachen, die man auswendig lernen, aber nicht verstehen muss", schreiben die Forscher. Außerdem wird nicht mehr wie bislang auf Verhütungsmittel hingewiesen.
Über dieses Thema berichtete HEUTE IM OSTEN auch bei MDR Aktuell im:TV | 10.06.2017 | 17:45 Uhr