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Gesprengter Staudamm des Kachowka-Stausees in der Region Cherson Bildrechte: IMAGO/Italy Photo Press

UkraineKachowka-Staudamm in Region Cherson zerstört – schwere Überflutungen

07. Juni 2023, 12:33 Uhr

Im Süden der Ukraine ist ein wichtiger Staudamm zerstört worden. Russland und die Ukraine werfen sich gegenseitig vor, dafür verantwortlich zu sein. In der Region kommt es zu schweren Überflutungen.

Im russisch besetzten Teil der ukrainischen Region Cherson sind der Kachowka-Staudamm und das dazu gehörige Wasserkraftwerk zerstört worden. Seit dem frühen Dienstagmorgen kommt es zu schweren Überflutungen in der Region. Das ukrainische Militär machte russische Truppen dafür verantwortlich. Sie hätten den Kachowka-Staudamm gesprengt, um die ukrainischen Streitkräfte an der Überquerung des Dnipro zu hindern. "Das ist eine hysterische Reaktion", sagte die Sprecherin des Militärkommandos Süd, Natalia Humeniuk. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem "weiteren Kriegsverbrechen, begangen von russischen Terroristen".

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Gegenseitige Schuldzuweisungen vor Sicherheitsrat

Russland und die Ukraine haben sich bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates gegenseitig die Schuld für die Zerstörung des Kachowka-Staudamms zugewiesen. Der ukrainische UN-Botschafter nannte die Sprengung einen "Akt des ökologischen und technologischen Terrorismus". Der Vorfall sei ein weiteres Beispiel für den Völkermord Russlands an den Ukrainern, so der Botschafter in New York. Sein russischer Kollege sprach dagegen von einer Sabotage Kiews und einem Kriegsverbrechen. Durch den Dammbruch würden die Landwirtschaft und das Ökosystem der Region Cherson geschädigt und die Wasserversorgung der Krim beeinträchtigt. Der amerikanische UN-Botschafter sagte, es gebe noch keine gesicherten Erkenntnisse über die Hintergründe. Eine Sabotage durch Kiew halte er aber für unwahrscheinlich.

Selenskyj vergleicht Sprengung mit Massenvernichtungswaffe

Die Sprengung des Kachowka-Staudamms verglich Selenskyj mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe. "Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten", sagte er am Dienstag bei einer Sicherheitskonferenz in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Dort war er per Video zugeschaltet. "Russland kontrolliert den Kachowka-Damm mit dem Wasserkraftwerk seit über einem Jahr", sagte er nach Angaben seines Präsidialamtes. "Und es ist physisch unmöglich ihn von außen, durch Beschuss zu zerstören." Der Staudamm sei von russischen Soldaten vermint und gesprengt worden.

Moskau bestritt dagegen weiter eine russische Verantwortung für den Vorfall. Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärte, es handele sich "eindeutig um eine vorsätzliche Sabotage der ukrainischen Seite", die auf Befehl "des Kiewer Regimes geplant und ausgeführt wurde".

Russische Besatzer rufen Notstand aus

Innerhalb weniger Stunden stieg der Wasserspiegel in angrenzenden Ortschaften rasant. In Nowa Kachowka riefen die russischen Besatzer den Notstand aus. Der von Russland eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew sagte im russischen Staatsfernsehen, das Wasser sei bereits um zwölf Meter angestiegen. Auch das an den Staudamm angrenzende und völlig zerstörte Kraftwerk stehe unter Wasser.

Nach der Zerstörung des Staudamms des Kachowka-Stausees stieg der Wasserstand in angrenzenden Ortschaften wie Nowa Kachowka binnen weniger Stunden um mehrere Meter. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Insgesamt seien 14 Orte und mehr als 22.000 Menschen von Überflutungen bedroht, erklärte der von Moskau eingesetzte Verwaltungschef der Region Cherson, Andrej Aleksejenko. Zuvor hatten beide Kriegsparteien von bis zu 80 bedrohten Ortschaften gesprochen. Der Leiter der ukrainischen Militärverwaltung von Cherson, Oleksandr Prokudin erklärte, etwa 16.000 Menschen befänden sich in der kritischen Zone am rechten Dnipro-Ufer.

Noch am Dienstagnachmittag haben die ukrainischen Behörden die Evakuierung von rund 17.000 Menschen eingeleitet. Für Gegenden mit insgesamt mehr als 40.000 Einwohnern bestehe Überflutungsgefahr, erklärte der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin am Dienstag in Online-Netzwerken. Auf der von Russland besetzten Seite des Flusses Dnipro sollten weitere 25.000 Anwohner fortgebracht werden.

IAEA sieht keine unmittelbare Gefahr für AKW Saporischschja

Mit Blick auf das nordöstlich gelegene Atomkraftwerk Saporischschja besteht nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde keine unmittelbare Gefahr. IAEA-Chef Rafael Grossi erklärte, man beobachte die Situation am AKW genau. Wegen des Dammbruchs falle der Wasserstand in einem Reservoir für die Kühlsysteme, die ein gefährliches Überhitzen der Reaktorkerne und des Atommülls in Saporischschja verhindern. Das Wasser aus dem Reservoir reiche noch für "einige Tage", zudem stehe ein Kühlbecken neben dem AKW-Gelände zur Verfügung, das weiteres Wasser für einige Monate enthalte.

Zugleich appellierte Grossi an Moskau und Kiew, es sei unerlässliche, dass dieses Kühlbecken intakt bleibe. Russische Truppen hatten das AKW kurz nach Kriegsbeginn besetzt, betrieben wird es von ukrainischem Personal.

Kiew meldet tonnenweise ausgelaufenes Motoröl

Nach ukrainischen Angaben sind nach der schweren Beschädigung des Staudamms 150 Tonnen Motoröl in den Fluss Dnipro geflossen. Aus dem Präsidialamt hieß es, es bestehe auch die Gefahr neuer Öllecks, die sich negativ auf die Umwelt auswirkten.

Internationale Bestürzung über Staudamm-Zerstörung

International löste der Vorfall Sorge und Kritik aus. Bundeskanzler Olaf Scholz sieht in der Sprengung des Staudamms eine gezielte Aktion Russlands, um eine militärische Offensive der Ukraine zu stoppen. "Das ist natürlich, bei allem was man annehmen kann, eine Aggression der russischen Seite, um die ukrainische Offensive zur Verteidigung des eigenen Landes aufzuhalten", sagte der SPD-Politiker in der Sendung "RTL Direkt Spezial - Am Tisch mit Olaf Scholz". Der Angriff auf den Kachowka-Staudamm sei lange befürchtet worden. Er habe schlimme Konsequenzen für alle, die im Umfeld des Staudamms lebten. "Das zeigt schon, dass das eine neue Dimension ist."

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach von einer "ungeheuerlichen Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert".

UNO und USA vermeiden zunächst Schuldzuweisung

Die Vereinten Nationen und die US-Regierung haben sich entsetzt über die Staudamm-Zerstörung in der Südukraine geäußert. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sprach von einer weiteren schrecklichen Folge des russischen Angriffskrieges. Allerdings habe man noch keine unabhängigen Informationen über die genauen Umstände der Katastrophe. Ähnlich äußerte sich der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der USA, John Kirby. Man könne noch nicht abschließend sagen, was passiert sei. 

EU-Ratspräsident Charles Michel betonte bei Twitter, die Zerstörung ziviler Infrastruktur gelte klar als Kriegsverbrechen – "und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Verantwortung ziehen". Ähnlich hob der britische Außenminister James Cleverly die mutmaßlich russische Verantwortung für den Vorfall hervor. Cleverly sagte der Nachrichtenagentur Reuters, es sei noch zu früh, um eine aussagekräftige Bewertung der Einzelheiten vorzunehmen. "Aber man sollte nicht vergessen, dass der einzige Grund, warum dies überhaupt ein Problem darstellt, Russlands unprovozierte umfassende Invasion der Ukraine ist." Zugleich forderte er Russland auf, seine Truppen sofort abzuziehen.

dpa,AFP,Reuters(rnm/nvm/dkn)

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 06. Juni 2023 | 12:00 Uhr