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Moskauer WirtschaftsexperteWegen Sanktionen allein? – "Russland kann nicht selbst überleben"

12. August 2022, 11:37 Uhr

Oleg Buklemishev lebt in Moskau. Der Wirtschaftsexperte arbeitete bis 1998 im russischen Finanzministerium und bis 2004 für die Regierung. Im Interview mit der MDR-Wirtschaftsredaktion spricht er über die "neue Normalität" in Russland – und darüber, dass die Sanktionen entgegen Putins Aussagen wirken. In China sieht er keinen Partner für die Zukunft. Viel mehr könne die Türkei zum wichtigen Verbündeten werden. Ob sich Russland komplett selbst versorgen könne? – "Es wäre ein völlig anderes Leben."

Der Krieg in der Ukraine läuft seit fast einem halben Jahr. Und mit ihm die Sanktionen des Westens gegen Russland. Vor Kurzem wurde dazu eine Studie der Yale University veröffentlicht. Darin widersprachen die Forscher Putins Aussage, die Sanktionen des Westens würden nicht wirken. Die Rede war unter anderem von einer einbrechenden Autoindustrie, sinkenden Konsumausgaben und katastrophalen Importzahlen. Laut der Studie sind mehr als 1000 ausländische Unternehmen abgewandert.

Auf russischer Seite fehlen zentrale Wirtschaftsdaten oder werden unter Verschluss gehalten. Die MDR-Wirtschaftsredaktion sprach mit dem Moskauer Wirtschaftsexperten Oleg Buklemishev über seine Eindrücke zur Lage.

Herr Buklemishev, Sie haben die Studie der Yale-Universität gelesen. Gibt es denn in Russland zumindest belastbare Zahlen zur Arbeitslosigkeit und zur wirtschaftlichen Lage der Bürger?

Zu aller erst: Es gibt einen wichtigen Unterschied. Russlands Wirtschaft reagiert auf solche Krisen anders als die Wirtschaften westlicher Länder. Unternehmen wollen die Leute nicht entlassen. Aus verschiedenen Gründen. Gerade die großen und mittleren Unternehmen bekommen Druck von der Politik und den Behörden. Auf der anderen Seite sieht man, dass es durchaus eine Angst gibt, qualifiziertes Personal zu verlieren. Auch das ist ein Grund, die Menschen nicht zu feuern. Und wenn die wirtschaftlichen Aktivitäten sich erholen sollten, dann sind die Leute da.

Prinzipiell sieht man natürlich, wie ausländische Unternehmen das Land verlassen und es gibt Schätzungen von vielen Millionen Arbeitsplätzen, die da dranhängen – und mit ihnen auch Lieferketten. Aber nicht mal das sieht man in den Arbeitslosenzahlen. Laut denen sind wir auf einem Rekordtief, was die Arbeitslosigkeit anbelangt. Es wird wohl dauern, bis man das dann sehen kann.

Abgesehen von der Arbeitslosigkeit gibt es aber andere Indikatoren wie Flugzahlen oder Im- und Exporte, an denen man ablesen kann, dass da etwas "im Gange" ist. Man kann Schlussfolgerungen ziehen. Ich glaube, dass die Ergebnisse der Yale-Studie ein wenig extrem sind und vielleicht beeinflusst von Wunschdenken. Trotzdem haben sie prinzipiell recht, wenn sie sagen, dass sich die russische Wirtschaft auf einem absteigenden Ast befindet. Wenn sie aber die Autoindustrie hervorheben, dann ist das ein besonders extremes und in der Produktion komplexes Beispiel. Es gibt Industriezweige, um die es bei Weitem nicht so schlimm bestellt ist.

Wie steht es um die Versorgungslage mit Waren des täglichen Bedarfs?

Es hat sich seit unserem letzten Gespräch (Anfang Mai, Anm. d. Red.) nicht so sehr verschlimmert. Trotzdem sieht man einige geschlossene Läden. Ich bin neulich durch das Zentrum von Moskau gelaufen und habe viele Schilder gelesen – "Wir haben gerade geschlossen, bitte haben Sie Verständnis". Die Konsumausgaben der Bürger sinken, wobei mittlerweile wieder ein bisschen mehr Optimismus diesbezüglich zurückkehrt. Trotzdem: Die Regale leeren sich und die Bürger legen mehr Geld zurück.

Vor drei Monaten sprachen Sie von einer Routine in der Bevölkerung, was den Krieg betrifft. Ist das immer noch so?

Ja, das ist immer noch so. Die meisten Menschen sehen das einfach nicht. Wenn man nicht ins Ausland reist oder Flugreisen macht, kriegt man halt nicht so viel mit. Und die militärischen Geschehnisse sind weit weg vom Alltag.

Wenn man sich nicht, wie wir jetzt, die Zahlen anguckt und schaut, was wirklich passiert, dann kann man das ausblenden. Es gibt ja immer noch eine Grundversorgung. Natürlich gibt es manche Waren nicht, man kann kein Auto kaufen, aber ansonsten ist alles ähnlich wie immer. Zumindest nicht so viel schlimmer, dass es ein starker Einschnitt wäre.

Auf der einen Seite kann dieser vermeintlich stabile Zustand durch die Energieexporte aufrechterhalten werden, aber auch die Widerstandsfähigkeit der Unternehmen ist zu nennen. Sie sind häufig sehr krisenfest, passen sich an die schwierige Situation und unterbrochene Lieferketten an und setzen die Arbeit fort – wenn auch mit geringerem Output und weniger Effizienz.

Was weiß man über die Zahlen derer, die ausgereist sind? Wir hatten über viele Zehntausende IT-Fachkräfte gesprochen, die das Land verlassen. Ist das nach wie vor ein Faktor?

Tatsächlich sind von den sehr vielen Menschen, die zu Beginn geflüchtet sind, einige zurückgekehrt. Und zwar, weil sie nicht zügig Jobs finden konnten. Es gibt aber durchaus noch den Versuch von Fachkräften, im Ausland Arbeit zu finden.

Einige russische Unternehmen versuchen, herauszufinden, wer im Ausland ist und wie man diese Menschen zurückgewinnt. Wenn russische Staatsbürger aus dem Ausland arbeiten, werden diese inzwischen höher besteuert. Sie sollen wie Ausländer behandelt werden.

Es ist immer wieder im Gespräch, dass Russland auf absehbare Zeit eine Selbstversorgungswirtschaft werden müsse. Ist das überhaupt realistisch?

Ich glaube, es gibt nur einen Staat, der sich gerade selbstversorgt und das ist Nordkorea. Das bringt natürlich sehr viele Nachteile mit sich, auch Kosten. Russland kann nicht selbst überleben – in vielerlei Hinsicht. Gucken Sie sich die Branchen an, die unser alltägliches Leben sichern. Es wäre ein völlig anderes Leben.

Ihr Kollege Alexander Auzan von der Moskauer Lomonossow-Universität war bei uns im Interview und sagt hingegen, Russland könne den Sanktionen trotzen und er sehe in "Zukunftsbranchen wie Digitalisierung und Atomenergie" sogar Chancen für das Land. Stimmen Sie ihm zu?

Nein. Ich würde ihm da widersprechen. Es wird Russland viel Zeit und Kraft kosten, diese Zeit zu überstehen. Viele Wirtschaftspartner sind weggebrochen und mit ihnen auch die Finanzmärkte. Jetzt an eine funktionierende Marktwirtschaft zu glauben bei dieser Ressourcenlage, ist einfach unmöglich. Die Mobilisierungen (für den Krieg, Anm. d. Red.) treiben uns wirtschaftlich ja in eine völlig andere Richtung. Und die Anpassungen an die Situation sind eher suboptimal. Ich weiß nicht, ob etwas Gutes für Russland dabei herausspringt.  

Kann die russische Rüstungsindustrie nachproduzieren, wenn die Reserven erschöpft sind?

Das ist sehr schwer zu sagen. Das hängt vor allem von der Beschaffung, z.B. von High-Tech-Materialien, ab. Die Geräte setzen sich ja aus sehr vielen Komponenten zusammen. Das betrifft übrigens nicht nur die Rüstungsindustrie. Es wird deutliche Engpässe in den Wertschöpfungsketten geben.  

China, Indien und auch Teile des globalen Südens sind nach wie vor wichtige Partner für Russland – Kann man damit die wirtschaftlichen Einbußen zügig kompensieren?

Bei China gibt es viele Anzeichen, dass die Partnerschaft nicht mehr so stark sein wird. China hat natürlich Druck von den westlichen Staaten (an die sie deutlich mehr Waren exportieren, Anm. d. Red.). An die anderen asiatischen Staaten gibt es keine so gute Anbindung. Man braucht Infrastruktur, Schienen und so weiter. Das sieht eher schwierig aus. Und selbst optimistische Experten sagen, dass es lange dauern wird, eh man die Energieexporte von Gas und Öl – insbesondere vom Gas – wird umstellen können.

Aber einen Akteur sollte man nicht vergessen und das ist die Türkei. Da wächst der Handel um 30 – 40 % und es sieht so aus, als könnte sie ein großer Partner für die russische Wirtschaft und Industrie werden. Die Türkei kann zumindest eine kleine "Ersatzrolle" für fehlende Lieferungen spielen. Um aber auf die Frage zurückzukommen: Andere Länder sind zu weit weg und spielen eine zu kleine Rolle als "Ersatz".

Wie hat sich Ihre Arbeit an der Universität in den letzten Monaten verändert?

Meine Arbeit verändert sich natürlich immer in Krisenzeiten. Es gibt dann eine Nachfrage nach Expertise, auch von der Industrie und der Regierung. Und wenn Sie von der Universität sprechen: Es sind gerade Semesterferien und wir werden sehen, wie es im September weitergeht.

Auch wir müssen uns anpassen, auch hier gibt es Mangel an Dingen, bestimmte Fachliteratur ist nicht verfügbar. Es geht weiter bei bestimmten Diensten wie Zoom o.ä. Man kann dafür nicht bezahlen. Verschiedenste Bezahldienste funktionieren nicht und das betrifft auch die internationalen Studenten.

Sie erwecken auf mich diesmal den Eindruck, als seien Sie optimistischer als in den letzten Interviews, die wir geführt haben. Sind Sie tatsächlich optimistischer?

Optimismus und Pessimismus halten sich keineswegs das Gleichgewicht. Wir bewegen uns auf ein desaströses Szenario zu, auf eine dunkle Zukunft. Das steht fest. Je eher Leute verstehen, was hier passiert, umso besser. Aktuell ist die Stimmung aber eher "Ach naja, so schlimm ist es doch nicht. Die russische Wirtschaft erholt sich früher oder später". Aber das ist nicht der Fall.

Die russische Wirtschaft wird nie wieder zu dem Punkt zurückkehren an dem sie vor dem 24. Februar 2022 war. Sie wird schlechter sein, ineffizienter und die Menschen werden weniger glücklich sein.

Oleg Buklemishev ist Direktor des Forschungszentrums für Wirtschaftspolitik an der Staatlichen Universität Moskau. Der Wirtschaftsexperte arbeitete bis 1998 im russischen Finanzministerium und bis 2004 für die Regierung. Die MDR-Wirtschaftsredaktion interviewte ihn zum fünften Mal.

Quelle: MDR-Wirtschaftsredaktion
Das Interview wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL RADIO | 11. August 2022 | 12:00 Uhr