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Julia Pshenychna: Sanduhr | Teil 5

06. September 2022, 16:48 Uhr

17 Wochen Aufenthalt in Deutschland. Wir haben Zuflucht in der wunderschönen altertümlichen Stadt Halle gefunden. Die ganze Zeit über waren und sind wir mit juristischen Aspekten unseres Aufenthalts hier befasst. Wir haben zwei Umzüge überstanden, die Kinder haben es geschafft, das Schuljahr abzuschließen (sowohl in der deutschen als auch online in der ukrainischen Schule). Das tägliche Hin und Her half, nicht zu viel darüber nachzudenken, was uns wohl weiter erwartet, denn abends fielen alle um vor Müdigkeit.

Jedoch – die ständige Kommunikation mit meinen Eltern, die alltägliche Sorge um sie, unsere Freunde und alle Ukrainer, die Ermattung, die Anstrengung, sich an das neue Leben anzupassen, die Angewohnheit, Erinnerungen zu "unterdrücken" (um nicht ganz kaputt zu gehen), die Angst vor der Zukunft, die Suche nach dem eigenen Ich hatten Wirkung – mein psychologischer Zustand verschlechterte sich und die Stimmung und die Kräfte waren auf Null, keinerlei Wünsche kamen auf. Aber wenn du zwei Kinder hast und das Leben sehr liebst, kann und muss man auch damit klarkommen. Eine zufällig gekaufte Sanduhr hat mich beeindruckt. Erstens zeigt sie anschaulich und unbarmherzig, wie schnell die Zeit verrinnt. Zweitens hilft sie dabei, sich zu organisieren – die Hausaufgaben mit meiner jüngeren Tochter machen wir, solange der Sand rieselt, also je 30 Minuten. Und drittens ist es eine wunderbare Methode zur Erholung, wenn du sitzt und einfach darauf schaust, wie der Sand rinnt. Diese Zeit gehört wirklich mir, sie ist allein meinen Gedanken, der Entspannung und Ruhe gewidmet.

Doch ich komme zurück auf die Suche nach einem Ausweg aus der emotionalen Anspannung, dem Negativen und dem Stress. Geholfen haben mir Aktionen und Erholung.

Aktionen

  • Alltägliche feste Verteilung, das Setzen von Prioritäten und Planung (des Tages, der Einkäufe, des Budgets, der Pläne und Handlungen) – das hilft sehr, sich selbst an die Hand zu nehmen und Zeit und Ressourcen zu sparen. Kleine Sachen versuche ich sofort zu lösen, lieber schnell erledigt und vergessen, als sie zehnmal ins Notizbuch zu schreiben und sie sich auftürmen zu lassen, wie eine Lawine.
  • Alltag: Ideale Ordnung im Haus (ich liebe es, Maß zu halten, denn genau in diesem Zustand kaufst du keinen Haufen unnötiger Dinge, die danach den Lebensraum überfüllen), gesundes Essen zu Hause.
  • Kinder: Regelmäßige Hausaufgaben (viele Eltern ukrainischer Erstklässler waren mit Mängeln im Lernen wegen Corona konfrontiert, online, danach der Krieg). Jetzt holen wir täglich nach, wofür es früher weder die Zeit noch die Möglichkeit gab.
  • Arbeit: mit unterschiedlichen Instanzen und Alltagsfragen (nicht "Problemen", denn wenn du mit allem wie mit "Fragen" umgehst, so lassen sie sich lösen, nennst du es allerdings ein Problem, so beginnt der Kopf zu schmerzen und die Stimmung ist dahin), eben Arbeit und ihre Suche.
  • Kommunikation: Durch "ich verstehe nicht", "ich kann nicht", ich bin mir selbst peinlich, strenge ich mich an und letzten Endes beginne ich deutsch zu sprechen.
  • Körperlicher Zustand: Sehr richtig sagt man, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnt. Ich habe für mich selbst einen Komplex von Übungen entwickelt, dank derer ich negative Emotionen durch körperliche Übungen verdränge.

Also:

Traurig? – Geh in die Hocke, bis die Trauer vergeht (der Ausstoß von Endorphinen und Adrenalin beeinflusst den Gemütszustand, dazu verspricht diese Übung noch einen idealen Po).

Ängstlich? – Mach Sit-Ups! Das ist erstens schön, zweitens stärkt es unter einem physiologischen Gesichtspunkt das Gleichgewicht und hält den Muskeltonus aufrecht. Und Gleichgewicht und Muskeltonus sind doch genau das, was man braucht, wenn einem ängstlich zumute ist.

Wut! – Liegestütze. Wenn du wütend bist, will man unbewusst etwas zerstören, daher finde ich, dass Liegestütze eine bessere Beschäftigung für meine Arme sind.

Verzweiflung ... – Hier kann Planking Abhilfe schaffen (es scheint, dass der Unterarmstützeine Erfindung der Inquisition ist und im Vergleich dazu ist die Verzweiflung nur ein blasser Schatten.

Erschöpfung – Geh schlafen, wenn es möglich ist. Wenn nicht – die Arbeit tut sich nicht allein, also will ich meist nicht schlafen.

Schlechte Stimmung – Ein Lauf oder Spaziergang hilft und je länger die schlechte Stimmung dauert, desto länger gehe ich laufen.

Wenn es keine Möglichkeit gibt, diese körperlichen Übungen zu machen, dann atme ich einfach tief und danke Gott für das Leben.

Erholung

  • Familientraditionen mit den Kindern
  • Vollwertiger Schlaf (wenn möglich)
  • Hobby "Schatzsuche"

Ganz am Anfang meines Aufenthalts in Deutschland habe ich, um nicht für eine Schlange an der Kasse verantwortlich zu sein, weil ich überaus lange die Geldstücke mit mir unbekanntem Wert zählen muss, die Münzen zu Hause gesammelt und den Einkauf stets mit Geldscheinen bezahlt. Nachdem sich reichlich Geldstücke angesammelt hatten, beschloss ich, diese zusammenzurechnen (leider war das Endergebnis nicht berauschend) und eben dabei fiel mir deren Rückseite mit unterschiedlichen Bilder auf. Durch Recherche im Internet erfuhr ich viel Interessantes über die Euromünzen. Es stellt sich heraus, dass jede Landesrückseite der Münze besonders ist. So hielt ich in meinen Händen Euromünzen, die in nahezu allen Ländern der EU geprägt worden waren! Darüber hinaus zeigte sich, dass man unter diesen Münzen einen wahren Schatz für Sammler finden kann – außerordentlich seltene Münzen (in kleiner Auflage herausgegeben, von einzelnen Ländern oder mit Mängeln). Einen solchen Glücksgriff habe ich bisher nicht getan, aber dank dieses Hobbys weiß ich immer bis auf den Cent, wie viele Münzen ich bei mir habe und woher sie sind. Und bislang habe ich auch die Hoffnung nicht aufgegeben, auf eine
2-Euromünze mit Grace Kelly zu stoßen.

Und schließlich noch mal zum Geld, aber irgendwie auch nicht:

Margo fragt mich:

  • Mama, sind wir denn reich?
  • Sehr! Denn wir sind zusammen, in Sicherheit, haben ein Dach über dem Kopf, Essen und die Hoffnung, nach Hause zurückzukehren!

Zusammenfassend kann ich sagen, dass die Arbeit an mir selbst am schwierigsten ist, aber allein sie hilft, die Haltung zum eigenen Leben zu ändern und damit das Leben schöner zu machen.