Bildungsrennen zwischen den ukrainischen Kindern und deren Müttern | Unser Tagebuch - Teil 7

10. Oktober 2022, 15:48 Uhr

Die ersten Seiten meines neuen Notizbuches sind dicht beschrieben. Hier sind mehrere Stundenpläne, die Namen von mehr als einem Dutzend Lehrern und die Zeiten der Schulbesuche notiert. Nein, ich bin keine Studentin, die mit ihren 35 Jahren eine zweite Hochschulbildung absolviert. Ich bin Mutter von zwei Kindern, die gezwungen sind, an zwei Schulen gleichzeitig zu lernen: einer deutschen und einer ukrainischen.

Anfang Juli habe ich bereits in "Unserem Tagebuch" über unsere Lernerfahrung in Deutschland berichtet.

Damals wusste ich noch nicht, dass mein Sohn, Schüler der vierten Klasse, (sowie alle ukrainischen Viertklässler unserer deutschen Schule) nicht zum Gymnasium wechseln würden und dass er – wie meine jüngste Tochter – weiter in einer Sammelklasse für ukrainische Kinder unterrichtet wird. Gleichzeitig werden dort Kinder unterschiedlichen Alters unterrichtet und das Lernen findet faktisch ohne Lehrbücher und ohne jegliches Bildungsprogramm statt. Ich denke, Sie können sich vorstellen, was das für ein Lernen ist …

Meine Tochter Vita, Schülerin der dritten Klasse, lernt also seit dem 29. August gemeinsam mit Schülern der ersten und zweiten Klasse. Mein Sohn Sviatoslav, dessen Klassenkameraden bereits in die 5. Klasse versetzt wurden, ist gezwungen, weiterhin die Grundschule zu besuchen. Das bedeutet jedoch, dass er ein ganzes Jahr verliert und nach seiner Rückkehr in die Heimat (denn wir haben nicht vor, in Deutschland zu bleiben) nicht wieder mit seinen Freunden zusammenkommt.

Warum sind wir gezwungen? Weil uns leider keine andere Wahl blieb. Wir sind verpflichtet, auch unter solchen Bedingungen eine deutsche Schule zu besuchen. Also haben wir unsere eigene Wahl getroffen und uns entschieden, an einer ukrainischen und gleichzeitig an einer deutschen Schule am Unterricht teilzunehmen. Eine solche Entscheidung haben Tausende ukrainische Mütter und Kinder getroffen, die jetzt in Deutschland und in anderen europäischen Ländern leben.

Wie gestaltet sich nun bei uns die doppelte Form des Lernens? Morgens um 6:30 Uhr stehen wir auf. Um 7:30 Uhr beginnt der Unterricht an der örtlichen Schule. Glücklicherweise gibt es nur vier Unterrichtsstunden. Dann kommen die Kinder zurück, essen schnell zu Mittag und nehmen am Online-Unterricht aus der Ukraine teil. Bei meiner Tochter ist die Situation einfacher: der Ukrainisch-Unterricht findet in der zweiten Schicht statt, an ihm kann sie teilnehmen.

Aber mit meinem Fünftklässler ist es viel komplizierter. Das Programm "Intellekt der Ukraine" hat elf Fächer, es sind neue, unbekannte Lehrer, täglich sind es sechs bis sieben Unterrichtsstunden in der ersten Schicht. Wir haben morgens eine Überlagerung von Unterrichtsstunden und können nur zwei oder drei nutzen. Deshalb haben wir bei der ukrainischen Schule einen Antrag gestellt, einiges im Selbststudium zu absolvieren. In dieser Situation ersparen wir uns eine Menge an gedruckten Lehrbüchern, Arbeitsheften und Hausaufgabenheften für jedes Fach, die monatlich an die Lernenden dieses Programms herausgegeben werden. Mein Vater hat sie uns in Deutschland übergeben. Und er wird uns diese weiterhin regelmäßig geben. Sie müssen zwar bezahlt werden, aber es lohnt sich.

Der Distanzunterricht findet auf der Plattform Google Classroom statt. Alle Informationen sind lesbar und systematisiert. Die Fachlehrer hinterlassen dort Nachrichten an die Schüler und hängen Lernvideos sowie Hausaufgaben an.

Im Allgemeinen befindet sich der Distanzunterricht an ukrainischen Schulen meiner Meinung nach auf einem sehr hohen Niveau und kann ein Beispiel für andere europäische Länder werden. Wenn ich Deutschen davon berichte, dann sind sie recht erstaunt und stellen zahlreiche Fragen.

Aber kommen wir zurück zu unserem Bildungswettlauf: Nach dem Online-Unterricht sorge ich unbedingt dafür, dass sich die Kinder erholen. Ich bemühe mich, dass sie draußen einen Spaziergang machen. Nach etwa anderthalb bis zwei Stunden beginnen wir mit den Hausaufgaben der ukrainischen Schule. Ich erlaube den Kindern, die Hausaufgaben der deutschen Schule nicht zu machen – ausgenommen davon sind die Hausaufgaben aus dem Fach „Deutsch“. Gemeinsam mit meinem Sohn bearbeiten wir die versäumten Unterrichtsstunden. Wir bemühen uns, dies jeden Tag schrittweise zu tun, um nicht alles auf einmal lernen zu müssen. Ich unterstütze und helfe ihm dabei. Sogar der Papa beteiligt sich online beim Erklären von Physik und Mathematik (darin ist bei uns der Stärkere), und damit lernt die ganze Familie.

Da übrigens der Distanzunterricht meiner Tochter und meines Sohnes fast zeitgleich stattfindet, musste ich einen weiteren Laptop und einen zusätzlichen Tisch kaufen. Ich habe für beide in verschiedenen Zimmern Arbeitsbereiche geschaffen. Und für mich persönlich habe ich eine Packung Baldriantabletten gekauft :)))

Ja, das Lernen der Kinder an zwei Schulen – das ist keine einfache Sache. Es ist noch sehr viel schwieriger. Wir haben jedoch alle Vor- und Nachteile abgewogen und diese Wahl getroffen. Für mich selbst war klar, dass ich in diesem Schuljahr meine Zeit vor allem den Kindern widmen werde. Ich habe mir vorgenommen, nicht zu vergessen, dass wir alle Geiseln dieser Situation sind. Für die Kinder ist es bedeutend schwieriger als für mich. Man muss klug und loyal sein, man muss Hilfe und Unterstützung geben.

Liebe ukrainische Mütter! Ich weiß, dass wir es gemeinsam schaffen, denn wir sind stark. So wie unsere Ukraine. Ich wünsche allen ein interessantes und erfolgreiches Schuljahr!

P.S. Baldrian-Tabletten kann man bei Rossmann ohne Rezept kaufen.

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MDR-Intendantin Prof. Dr. Karola Wille
MDR-Intendantin Prof. Dr. Karola Wille Права на зображення: MDR/Kirsten Nijhof
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