Yulia Osinska Kaufen Sie sich Blumen! Wie man im Ausland moralisch in Form bleibt

09. Juni 2022, 21:30 Uhr

"Kinder, wir können uns nicht so oft Süßigkeiten kaufen!". "Die Gesichtscreme ist aufgebraucht … macht nichts, ich komme ohne sie aus." "Ich brauche eigentlich keine neuen Turnschuhe, ich werde noch in den Stiefeln laufen." Glücklicherweise kamen mir solche Gedanken nur in den ersten 2 - 3 Wochen meines Aufenthaltes in Deutschland. Ständige innere Anspannung, Schuldgefühle, Angst um die in der Ukraine verbliebenen Angehörigen und vor allem der Gedanke, dass man hier "in einer schwachen Position“ steht, trieben in einen so engen seelischen Rahmen, dass einem manchmal das Atmen schwerfiel. Aber irgendwie wurde ich im Supermarkt auf Tulpen aufmerksam. Aktionspreis – 1,70 Euro. Und ich habe sie gekauft…

In der Ukraine hatten mein Mann und ich einen gut bezahlten Job, eine eigene Wohnung und ein Auto. Wir lebten nicht luxuriös, aber wir konnten es uns leisten, angenehm komfortabel zu leben. Regelmäßige Maniküre in einem Schönheitssalon, Kosmetikerin, Fitnessstudio, Shopping mit Freundinnen am Wochenende, Kaffee in einem gemütlichen Café mit Kollegen in der Mittagspause, kleine Familienausflüge. All dies erschien mir damals als gewöhnliche und alltägliche Kleinigkeit. Ich bin sicher, den meisten von Ihnen ging es fast genauso. Dies nennt man ein etabliertes ruhiges Leben. Und uns wurde es jedoch vorenthalten, von denen, die plötzlich entschieden, dass sie dazu berechtigt sind…

Als ich in Deutschland ankam, hatte ich die Vorstellung, dass "es nicht so sein wird, wie es war" und dass "ich mir nicht leisten kann, was ich mir zu Hause erlaubt habe". "Ich habe da kein Recht, an Hautpflege, an Maniküre zu denken…". Mir schien, dass die Kinder zu oft baten, ihnen Schokolade zu kaufen.

Ich gestehe offen: Als wir das erste Mal in einen deutschen Laden gingen, kam es mir so vor, als ob uns alle ganz besonders anschauten. Ich wollte so schnell wie möglich raus. Ich gestattete den Kindern, sich jeweils eine Schokolade auszusuchen. Etwas mehr zu nehmen, wagte die Hand nicht, "denn wir sind Flüchtlinge und können hier nicht übermäßig schwelgen". Denn aus irgendeinem Grund empfand ich die Gesichtscreme und die Eiscreme, die von den Kindern gewünscht wurde, als Luxus … Auf meiner Seele lastete die ganze Zeit eine unbegreifliche Last, die mich minderwertig fühlen ließ. Ich wollte nichts tun, ich dachte an nichts, die Tage verbrachte ich damit, in einem geschlossenen Raum operative neue Nachrichten aus der Ukraine zu lesen.

Ich wurde durch die Tulpen und durch die Zeit gerettet. Der duftende Strauß auf dem Küchentisch erinnerte mich daran, dass ich nicht nur Mutter, sondern auch Frau war. Er gab mir Ruhe beim Kochen, gab mir das besondere Gefühl eines gemütlichen Zuhauses und die Hoffnung, dass alles gut werden würde. Also beschloss ich, mir unbedingt Blumen zu kaufen. Zumal sie hier in Deutschland recht günstig sind. Ein Strauß Tulpen ist billiger als eine Tasse Kaffee.

Nach und nach kam die Erkenntnis, dass das Leben auch im Status eines Zwangsumsiedlers auf keinen Fall aufzuhalten ist. Die Kinder brauchen Schokolade, Eis und neues Spielzeug – das macht sie glücklich. Schließlich haben wir sie an einen sicheren Ort gebracht, nicht nur um hier zu sein. Wir haben es getan, um sie zum Lächeln zu bringen und sich über jeden neuen Tag zu freuen. Einige grundlegende Haut-, Haar- und Nagelpflegeprodukte werden unseren Geldbeutel nicht ruinieren, aber uns den Geschmack des Lebens zurückgeben, den wir alle jetzt wirklich brauchen! Zumal dies hier alles zu sehr erschwinglichen Preisen zu haben ist. Und ein Eis oder ein Glas Wein zum Abendessen wird doch der Mutter auch nicht schaden.

In diesem Beitrag geht es nicht um Finanzen, falls Sie das nunmehr dachten. Es geht um Prioritäten in der Situation, in der wir uns befinden. Und das wird uns helfen, in psychologischer Form zu bleiben, während wir darauf warten, nach Hause zu Verwandten zurückzukehren. Das hilft mir zumindest weiter. Kinder unterrichten und betreuen, Sport treiben (morgens zu joggen ist überall möglich!), Selbstentfaltung, Selbstfürsorge, Deutsch lernen (aber nicht nur), einen neuen Beruf im Online-Kurs erlernen, Kontakte mit Freunden knüpfen, kleine Ausflüge durch Deutschland machen – all dies ist hier und jetzt möglich. Nicht umsonst raten die Psychologen, sich Ziele für den Tag zu setzen und diese zu erfüllen. Man muss beschäftigt und nützlich für jemanden oder für sich selbst sein. Und das funktioniert.

Aber selbst wenn es um Finanzen geht, ist Deutschland eines der größten Länder in Europa, das jetzt den Zwangsumsiedlern materielle Hilfe gewährt. Es reicht auf jeden Fall für Lebensmittel, Hygieneartikel, Teilzahlungen für die kommunalen Dienstleistungen, für das Internet… Vielen Dank dafür! Natürlich erfordert allein die Finanzierung der Wohnung ein viel höheres Einkommen, und man muss einen Job finden. Aber das ist ein anderes Thema…

In der Zwischenzeit, meine lieben Landsleute, machen Sie sich keine Vorwürfe, dass Sie jetzt hier sind! Gönnen Sie sich kleine Leckereien, kaufen Sie Eis und Blumen, halten Sie sich körperlich und moralisch fit! Schließlich werden wir bald nach Hause zurückkehren und unsere Heimat Ukraine wieder aufbauen!

Yulia Osinka

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