Kriegstrauma: "Suchen Sie sich Gesprächspartner, die richtig gut zuhören."

31. März 2022, 18:28 Uhr

Dr. Yuriy Nesterko ist Psychologe und leitet die Arbeitsgruppe Psychotraumatologie und Migrationsforschung an der Universität Leipzig. Im Interview mit dem MDR berichtet er, welche Folgen Kriegstraumata haben können und wie sich Betroffene Hilfe holen können.

Wie viele Menschen aus Kriegsgebieten leiden unter einem Trauma, das behandelt werden sollte?

Was wir aus der internationalen Forschung, aber auch aus unserer Arbeit in Leipzig wissen, ist, dass etwa die Hälfte der neu ankommenden Geflüchteten eine klinisch relevante Symptomatik hat. Das kann eine Traumafolgestörung sein, das kann aber auch eine andere psychische Störung sein. Bei posttraumatischen Belastungsstörungen, also der Störung, die direkt auf ein traumatisches Erlebnis zurückzuführen ist, liegt die Quote etwa bei 30 Prozent. Das Spektrum an möglichen Traumatisierungen ist groß. Das Ausmaß hängt von der Dauer des Erlebten ab, wie häufig ein Mensch der Traumatisierung ausgesetzt war und wie die Täterschaft wahrgenommen wird. Geht es etwa um eine Bombardierung, also eine unmittelbare existenzbedrohliche Situation, die man in einem Keller erlebt hat, ist das schon eine Extremtraumatisierung. Dennoch gehen wir davon aus, dass die Traumatisierung noch größer ist, wenn an der Situation ein anderer Mensch sichtbar beteiligt war – wie im schlimmsten Fall bei einer Vergewaltigung.

Wie wirkt sich denn so ein Trauma ganz konkret im Alltag aus?

Oft durch wiederkehrende Erinnerungen an das Erlebte. Das kann im Tagesverlauf immer wieder hochkommen. Die Betroffenen erleben die Ereignisse bruchstückhaft auf unterschiedlichsten Kanälen von neuem – durch Geräusche, Bilder oder Gerüche, die sie plötzlich wahrnehmen. Es kann Ein- und Durchschlafstörungen geben oder auch Alpträume mit den Inhalten des traumatischen Ereignisses. Bei anfänglicher oder vollausgeprägter Symptomatik kommt es oft zu Konzentrationsschwierigkeiten, zum Beispiel beim Lesen. Oder es fällt einem schwer, Gesprächen zu folgen und adäquat zu antworten. Wir sehen auch eine gewisse Gereiztheit oder Impulsivität.

Kann man selbst feststellen, dass man Hilfe braucht?

Das traumatische Ereignis an sich werden die allermeisten auch als traumatisch einordnen können. Ob daraus der Schluss folgt, dass man professionelle Hilfe braucht, ist individuell unterschiedlich. Das hängt von Vorerfahrung mit psychischen Erkrankungen ab, das hängt von dem nach wie vor ausgeprägten Stigma psychischer Erkrankungen ab. Die Barrieren, sich Hilfe zu holen, können auch kulturell oder auch religiös unterschiedlich sein. 

Wie können Geflüchtete professionelle Hilfe finden?

Der allererste Schritt ist, sich zu registrieren. Dadurch bekommt man Zugang zu medizinischer Versorgung. In Deutschland gibt es eine Reihe von psychosozialen Zentren, die Angebote für Geflüchtete machen. Dort wird auch entschieden, ob der oder diejenige eine kurzfristige Betreuung braucht oder, ob es in Richtung Psychotherapie gehen sollte. Wenn die Person dann die Gesundheitskarte einer Krankenkasse hat, ist auch der Weg in die ambulante Psychotherapie offen, also die Regelversorgung. Dann bewirbt man sich mit allen anderen auf die wenige Plätze für Psychotherapie, die es in Deutschland gibt. Die Wartezeiten sind sehr lang. 

Ist Therapie überhaupt möglich, wenn beide Seiten keine gemeinsame Sprache sprechen?

Es gibt Therapie über Sprachmittlung - also ein Gespräch, an dem drei Personen teilnehmen. Das funktioniert in der Regel ganz gut. Es gibt auch entsprechende Schulungen für Sprachmittler, damit sie ganz genau wissen, welche Rolle sie in dieser Konstellation spielen. Die Frage ist dann eher, wer die Kosten dafür trägt. Das tut die Krankenkasse im Moment nicht. Die psychosozialen Zentren bieten aber in der Regel auch Sprachmittlung an.  

Wenn man keinen Therapieplatz findet – was kann man selbst, was können die Menschen um einen herum tun, damit es nicht schlimmer wird?

Wir sind in einem Zeitalter, in dem es gute Überbrückungsmöglichkeiten gibt – auch online. Gleichwohl muss man aufpassen, in welchen Räumen und Gruppen man sich dort bewegt. Ich glaube, das allerwichtigste ist Solidarität innerhalb der Community zu schaffen. Das Gebot der Stunde ist, sich Gesprächspartner zu suchen, die in der Lage sind, richtig zu zuhören. Sich mitzuteilen ist erstmal das allerwichtigste – dafür muss der Mensch das Gefühl bekommen, dass das Gegenüber stark genug und tatsächlich bereit ist, sich mit den traumatischen Erlebnissen des oder der Betroffenen auseinanderzusetzen. Ob die Personen, die jetzt gerade nach Deutschland kommen, sofort eine Psychotherapie brauchen, glaube ich nicht. Das ist eine Frage, die vielleicht in vier bis sechs Monaten aufkommt. Zunächst sollte die basale Versorgung geklärt sein – Wohnen, Essen, Bildung für die Kinder.  

Was passiert, wenn nicht therapiert wird?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Leiden chronisch wird. Das heißt, der Mensch lebt über Monate oder Jahre mit einer ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörung und ist sehr eingeschränkt in vielen sozialen Bereichen, einschließlich Arbeit. Da können sich auch grundlegende Persönlichkeitsstrukturen verändern. Das sind extreme Fälle. Genauso gibt es Menschen, die nur phasenweise einen hohen Leidensdruck haben. Es passiert aber auch, dass die Symptomatik von allein abklingt. Wenn auch nicht so häufig, wie wir es uns wünschen.

Weitere Informationen:

Geflüchtete mit psychischen Problemen können sich an eines der psychosozialen Zentren wenden, die über den Dachverband Baff organisiert sind. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt es insgesamt sieben Anlaufstellen:

Психосоціальні центри - центри BAfF

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MDR-Intendantin Prof. Dr. Karola Wille
MDR-Intendantin Prof. Dr. Karola Wille Права на зображення: MDR/Kirsten Nijhof
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