Wiedervereinigungsbilanz nach 30 Jahren Trotz gleicher Qualifikation weniger Verdienst im Osten als im Westen
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Auch fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung verdienen Beschäftigte im Osten noch deutlich weniger als im Westen. Aus Sicht der Gewerkschaften ist die geringe Tarifbindung wichtiger Grund für die weiterhin klaffende Ost-West-Lohnlücke. Wirtschaftswissenschaftler meinen, dass die Lücke geschlossen werden kann, wenn die Produktivität in den Zentren erhöht werden kann. Das wird nach ihrer Einschätzung aber noch lange dauern.
Auch fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung verdienen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Osten noch deutlich weniger als im Westen. Ost-Beschäftigte gleichen Geschlechts im gleichen Beruf mit vergleichbarer Berufserfahrung bekommen rund 17 Prozent weniger als im Westen. Das ergibt eine Auswertung von annähernd 175.000 Datensätzen des Portals Lohnspiegel.de durch das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Besonders stark zurück liegen demnach ostdeutsche Arbeitnehmer mit abgeschlossener Berufsausbildung oder weiterführender beruflicher Qualifikation wie Meister. Sowohl bei Akademikern und als auch bei Helferjobs ist der Abstand zum Westen kleiner. Die geringere Verbreitung von Tarifverträgen ist nach der Analyse des WSI ein wesentlicher Grund für den Gehaltsrückstand in den östlichen Bundesländern.
Tarifbindung im Osten geringer als im Westen
2019 wurden nur 45 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten nach einem Tarifvertrag (Branchen- oder Haustarif) bezahlt. Im Westen waren es hingegen 53 Prozent. Das ergab die jährliche Befragung von rund 15.000 Betrieben durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Die Zahlen sinken seit Jahren. Von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die nicht nach einem Tarifvertrag bezahlt wurden, orientierte sich bei gut der Hälfte in Westdeutschland und bei etwa 43 Prozent in Ostdeutschland zumindest die Bezahlung an einem Branchentarifvertrag. Das gaben die Betriebsleiter bei der IAB-Befragung an.
West | Ost | |
---|---|---|
2000 | 70% | 55% |
2010 | 63% | 50% |
2019 | 53% | 45% |
Quelle: IAB |
Angleichung bei den Tariflöhnen bei 97,6 Prozent
Bei den Tariflöhnen haben die Gewerkschaften nach den WSI-Zahlen inzwischen eine weitgehende Angleichung zwischen Ost und West durchsetzen können. Zahlen für das Jahr 2019 werden nach Auskunft des WSI erst im Juli 2020 veröffentlicht. Nach dessen aktuellen Angaben lag das Tarifniveau in Ostdeutschland 2018 bei 97,6 Prozent des Westens. Während innerhalb von vier Jahren bis Mitte der 1990er-Jahre der Zuwachs bei 26 Prozentpunkten lag, waren es in den folgenden gut 20 Jahre lediglich 12.
Jahr | Tarifniveau |
---|---|
1991 | 60% |
1995 | 86% |
2000 | 91,9% |
2005 | 94,6% |
2010 | 96,6% |
2015 | 97,4% |
2018 | 97,6% |
Quelle: WSI-Tarif-Archiv |
Einige Branchen bezahlen 100-Prozent-West
Seit Mitte der 1990er-Jahre zahlen einige Branchen in Ost und West ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die gleiche Arbeit das gleiche Geld. Den Anfang machte die Druckindustrie 1995. Im Jahr darauf folgten Eisen- und Stahlindustrie (Ost/NRW) und die papierverarbeitende Industrie (Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen/Hessen). Dann zogen das Bank- und Versicherungsgewerbe nach. Mittlerweile sind auch das Staatsunternehmen Deutsche Bahn und die ehemaligen Bundeskonzerne Deutsche Post und Deutsche Telekom dabei sowie der Öffentliche Dienst.
Tarifbereich (Ost-/Westgebiet) | seit | |
---|---|---|
Öffentlicher Dienst Bund, Länder, Gemeinden | E | 2008 |
Deutsche Bahn AG Konzern* | E | 2005 |
Textilindustrie (Ost/Westfalen und Osnabrück) | E,L | 2005 |
Deutsche Post AG | G | 2002 |
Deutsche Post AG | L | 2001 |
Einzelhandel (Brandenburg/Berlin-West) | L,G | 1999 |
Deutsche Telekom AG | E | 1999 |
Versicherungsgewerbe | E | 1998 |
Bankgewerbe | E | 1997 |
Eisen- und Stahlindustrie (Ost/NRW) | L,G | 1996 |
Papierverarbeitende Industrie (Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen/Hessen) | G | 1996 |
Druckindustrie | L,G | 1995 |
*) DB Station & Service AG, DB Fernverkehr AG, DB Regio AG, DB Cargo AG, DB Netz AG. // L: Lohn, G: Gehalt, E: Entgelt // Quelle: WSI-Tarifarchiv Stand 31.12.2018 |
Es gibt auch viele Branchen, in denen die Ost-West-Angleichung noch nicht erfolgt ist.
Tarifbereich (Ost-/Westtarifgebiete) | ||
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Landwirtschaft (Mecklenburg-Vorpommern/Bayem) | L | 73,6% |
Holz und Kunststoff verarbeitende Industrie (Sachsen/Bayern) | E/L | 74,2% |
Textilindustrie (Ost/Westfalen und Osnabrück) | E G | 74,4% |
Privates Transport- und Verkehrsgewerbe (Brandenburg - Speditionen und Logistik/Bayern) | G | 75,3% |
Hotel- und Gaststättengewerbe (Sachsen/Bayern) | E | 78,2% |
Kfz-Gewerbe (Thüringen/Hessen) | E | 87,6% |
Energie- und Versorgungswirtschaft (Ost AVEU/Energiewirtschaft NRW im GWE-Bereich) | E | 88,5% |
Holz und Kunststoff verarbeitende Industrie (Sachsen/Bayern) | E/G | 89,0% |
Gebäudereinigerhandwerk (Arb.: Ost/West inkl. Berlin) | L | 90,1% |
Metall- und Elektroindustrie (Sachsen/Bayern) | E | 91,7% |
Großhandel (Sachsen-Anhalt/NRW) | G | 91,7% |
Bauhauptgewerbe (Ost ohne Berlin-Ost/West ohne Berlin-West) | L | 94,0% |
Bauhauptgewerbe (Ost ohne Berlin-Ost/West ohne Berlin-West) | G | 94,1% |
Kautschukindustrie (Ost/Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland) | E | 94,5% |
Süßwarenindustrie (Ost/Baden-Württemberg) | E | 95,3% |
Großhandel (Sachsen-Anhalt/NRW) | L | 95,9% |
Privates Transport- und Verkehrsgewerbe (Brandenburg - Speditionen und Logistik/Bayern) | L | 98,4% |
Chemische Industrie (Ost/Berlin-West) | E | 99,0% |
Papier verarbeitende Industrie (Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen/Hessen) | L | 99,6% |
L: Lohn, G: Gehalt, E: Entgelt // Quelle: WSI-Tarifarchiv Stand 31.12.2018 |
Ökonomen: Arbeitsproduktivität steigern und Lohnlücke schließen
Experten für die ostdeutsche Wirtschaft sind die Dresdner Außenstelle des Münchner Ifo-Institutes und das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Das Ifo-Institut führt neben der geringeren Tarifbindung die Ost-West-Lohnlücke zu einem nicht unerheblichen Teil auf andere strukturelle Unterschiede zurück. Demnach fehle u.a. eine hinreichende Anzahl von Großbetrieben. Zudem sei auch die geringere Arbeitsproduktivität auf Betriebsebene und der höhere Beschäftigungsanteil von Frauen kontraproduktiv, heißt es in einer Studie. Ähnlich erklären die Experten des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) die weiterhin bestehende Ost-West-Lohnlücke. "Dass Ostdeutschland bei der Verringerung der Ost-West-Produktivitätslücke nur noch wenig vorankommt, hat nicht nur mit fehlenden Konzernzentralen zu tun. Eine Produktivitätslücke existiert in Betrieben aller Größen. Sie ist im städtischen Raum größer als im ländlichen", erklärt IWH-Präsident Prof. Reint E. Gropp. Um gegenzusteuern, solle die Wirtschaftspolitik nicht nur auf zusätzliche Subventionen setzen, die an die Arbeitsplatzschaffung und -erhaltung gebunden sind. "Die Produktivitätspotenziale der ostdeutschen Städte gilt es zu heben", fordern die Halleschen Wirtschaftswissenschaftler in ihrer Bilanz 30 Jahre nach dem Mauerfall. Um das zu erreichen, sollte nach ihrer Auffassung die Wirtschaftspolitik dafür sorgen, dass Verkehrsinfrastrukturen bedarfsgerecht fortentwickelt werden. So könne man den Menschen im ländlichen Raum das Pendeln in die Arbeitsmarktzentren erleichtern. "Grundsätzlich können auch Clusterinitiativen und Innovationsnetzwerke dazu beitragen, Akteure im ländlichen Raum in regionale Innovationssysteme einzubinden, deren Netzknoten häufig in den Zentren liegen", heißt es weiter. Zudem machen die Hallenser einen neuen Entwicklungsengpass in Ostdeutschland aus: den Fachkräftemangel. Um dieses Problem zu lösen, fordern sie eine "qualifizierte Zuwanderung mit einer entsprechenden Willkommenskultur in Ostdeutschland."
Entwicklung der Produktivität im Osten
Im vereinten Deutschland hat sich seit Beginn der 1990er-Jahre ein beachtlicher Aufholprozess der Neuen Länder in Sachen Produktivität (gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen) vollzogen, der sich allerdings bereits seit Mitte der 1990er-Jahre verlangsamt hat.
Jahr | Ost-West-Verhältnis |
---|---|
1991 | 34% |
1995 | 64% |
2000 | 70% |
2005 | 73% |
2010 | 74% |
2015 | 78% |
2019 | 80% |
Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder |
Auch fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer verläuft die Grenze bei der Produktivität entlang der ehemaligen Trennlinie zwischen Ost und West. Noch kein ostdeutsches Flächenland hat die Produktivität des westdeutschen Landes mit der niedrigsten Produktivität erreicht.
Bundesland | BIP |
---|---|
Hamburg | 95.286 € |
Hessen | 83.319 € |
Baden-Württemberg | 81.984 € |
Bayern | 81.916 € |
Bremen | 76.643 € |
Berlin | 74.239 € |
Niedersachsen | 74.069 € |
Nordrhein-Westfalen | 73.832 € |
Rheinland-Pfalz | 70.842 € |
Schleswig-Holstein | 68.359 € |
Saarland | 67.862 € |
Brandenburg | 65.853 € |
Sachsen-Anhalt | 63.244 € |
Sachsen | 61.967 € |
Mecklenburg-Vorpommern | 61.366 € |
Thüringen | 61.047 € |
Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder |
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Umschau | 09. Juni 2020 | 20:15 Uhr