Symbolbild Rente - Hand auf einem Gehstock, daneben Geldscheine
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Erklärt Kürzung von Erwerbsminderungsrenten

04. Juli 2022, 15:28 Uhr

Seit 2001 gibt es die Erwerbsminderungsrente in ihrer jetzigen Form. Sie zu bekommen, ist äußerst schwierig – und sie ist sehr gering, meist kaum über 900 Euro brutto im Monat. Das liegt auch daran, dass Betroffenen die Rente gekürzt wird. Nur warum? Frank Frenzel erklärt es.

Versicherungsleistung nur mit Abzügen

Stellen Sie sich vor, Sie schließen eine Versicherung ab, die Sie und Ihre Familie schützen soll. Zum Beispiel eine Unfallversicherung. Ein Jahr nach dem Vertragsabschluss passiert es: Ein schwerer Unfall führt zur Invalidität. Nur gut, jetzt eine Unfallversicherung zu haben, denken Sie. Doch die Versicherung zahlt die vereinbarte Summe nicht voll aus, sondern nur einen Teil. Ihr Argument: Sie nehmen die Leistung ja viel zu früh, nämlich vorzeitig, in Anspruch. Aber für solche Fälle ist doch eine Versicherung da, entgegnen Sie! Nützt nichts, die Versicherungsleistung bekommen Sie nur mit Abzügen.

Kürzung darf nicht so heißen

Was bei privaten Versicherungen undenkbar erscheint (mal abgesehen von diversen Tricks der Assekuranzen, sich vor Zahlungen gänzlich zu drücken), bei der Erwerbsminderungsrente geht das. Wer eine Erwerbsminderungsrente, z.B. vor dem 60. Geburtstag beziehen muss, bekommt 10,8% seiner Rente abgezogen – wegen vorzeitigem Rentenbeginn. So als würde der Betroffene freiwillig zum Frührentner werden. Natürlich heißt es im offiziellen Rentendeutsch nicht Kürzung – man spricht von Zugangsfaktor und Zurechnungszeit. Mathematisch kommt jedoch dasselbe heraus!

Wenn sich jetzt die Regierung damit brüstet, die Lage der Erwerbsminderungsrentner "im Bestand", also langjähriger Rentner, zu verbessern, dann ist das in etwa so, als würde Ihnen ein Dieb über viele Jahre hinweg Monat für Monat 100 Euro klauen, Ihnen ab einem bestimmten Stichtag, sagen wir mal, 70 Euro zurückgeben und für diese "heroische" Tat von einer Verbesserung Ihrer Lage sprechen.

Abschläge erst seit 2000

Seit dem Jahr 1992 wurde der Rentenabschlag für Altersrenten mit dem Rentenreformgesetz vom 18. Dezember 1989 eingeführt. Somit wurde für Versicherte die Möglichkeit geschaffen, vorzeitig vor einem regulären Renteneintritt eine Altersrente in Anspruch zu nehmen. Vor dem 1. Januar 1992 gab es diese Möglichkeit nicht. Wer jedoch früher in Rente gehen wollte, dem wurde seine Rente gekürzt, weil mit dem früheren Rentenbeginn die Rentenbezugszeit viel länger wurde.

Konkret hieß das: Pro Monat vorzeitigen Rentenbeginn wurde die Rente um 0,3% gekürzt. Da man maximal fünf Jahre früher in Rente gehen konnte (z.B. mit 60 statt mit 65) waren bis zu 18% Abzug von der Rente möglich. Einen Rentenabschlag kannte die Erwerbsunfähigkeitsrente und die damals noch mögliche Berufsunfähigkeitsrente nicht.

Die Abschläge beim vorzeitigen Rentenbeginn konnten Arbeitnehmer jedoch umgehen, wenn sie es schafften, statt einer vorgezogenen Altersrente eine Erwerbsunfähigkeitsrente (wie die EM-Rente damals noch hieß) zu beziehen. Dann entfielen die Abzüge, weshalb viele davon Gebrauch machten – was wiederum die Rentenkassen massiv belastete. Damals, in den 1990er-Jahren, war es noch relativ einfach, eine solche Rente bei den Rentenkassen durchzusetzen.

1998 sind ca. 33 Prozent aller Renten als Erwerbsunfähigkeitsrenten bewilligt worden. Um dieses Ausweichen zu vermeiden, wurde im Jahr 2000 auch die Erwerbsunfähigkeitsrente reformiert und auch für diese Renten ein Abschlag bis maximal 10,8 % eingeführt.

Einführung der heutigen Erwerbsminderungsrente

Ab 2001 galt: Die bis dahin noch mögliche Berufsunfähigkeitsrente und Erwerbsunfähigkeitsrente wurden zur Erwerbsminderungsrente zusammengefasst (für ältere Arbeitnehmer gab es sie weiter) und die Zugangsvoraussetzungen für diese neue EM-Rente extrem verschärft.

Um eine solche Rente zu bekommen, so Kritiker, musste man quasi mit dem Kopf unterm Arm beim Medizinischen Dienst der Rentenkasse erscheinen. Wer noch irgendwie ein paar Stunden arbeitsfähig war – und sei es als Pförtner – bekam die Rente nicht. Unabhängig davon, ob für die noch mögliche Tätigkeit überhaupt ein Arbeitsplatz zur Verfügung stand. Im Klartext: Wer jetzt eine EM-Rente bekam, der war wirklich krank, sehr krank und arbeitsunfähig und bezog die neue Erwerbsminderungsrente mit Sicherheit nicht freiwillig. Dennoch sah das neue Gesetz vor, die Bezüge dieser neuen Erwerbsminderungsrentner um 10,8% zu kürzen, wenn sie vor dem 63. Lebensjahr in Rente gehen – wegen vorzeitigem Rentenbeginn.

Die Rentenversicherungsträger gingen aber noch einen Schritt weiter und kürzten die Erwerbsminderungsrenten auch dann, wenn jemand weit vor dem 60. Lebensjahr die EM-Rente bezog.

Klagewelle bis heute –

Erste Klagen, erster Erfolg

So dauerte es nicht lange, bis die ersten Klagen gegen das Vorgehen die Sozialgerichte erreichten. 2006 urteilte dann das Bundessozialgericht, dass diese Praxis unzulässig sei (B 4 RA 22/05 R). In der Urteilsbegründung hieß es dazu u.a.: "Die Rentenkürzung ist gesetz- und verfassungswidrig." Und: "Das Gesetz schließt ausdrücklich einen Rentenabschlag vor Vollendung des 60. Lebensjahres aus".

Das Urteil hätte ca. 900.000 betroffenen EM-Rentner höhere Bezüge beschert, oft um die 100 Euro im Monat. Mehrkosten für die Rentenversicherung: ca. eine Milliarde Euro. Wohlgemerkt Geld, das den Betroffenen nach Lesart der damaligen BSG-Richter vorenthalten wurde.

Urteil nicht anerkannt

Doch dann passierte etwas sehr Ungewöhnliches: Die Rentenversicherungsträger erkannten das Urteil nicht als Grundsatzurteil an, das auch auf andere vergleichbare Fälle anzuwenden ist. Sie sprachen von einem Einzelfall und wollten weitere Urteile in der Sache, die noch beim Bundessozialgericht anhängig waren, abwarten.

Für das Urteil von 2006 war der für Rentenfragen zuständige 4. Senat unter Prof. Wolfgang Meyer zuständig. Bei ihm landeten alle Rentenverfahren. So wäre Richter Meyer auch für die folgenden, noch offenen Verfahren zuständig gewesen.

Renten-Richter von Aufgaben entbunden

Doch zur Überraschung von Prof, Meyer wurde dieser 2008 von seinen Ausgaben als Vorsitzender Richter des 4. Senats entbunden – und zwar gegen seinen Willen. Seitens des BSG hieß es zur Begründung, seit Jahren hätte Richter Meyer die hohe Arbeitsbelastung seines Senats beklagt und um Entlastung gebeten. Dieser Bitte komme man nun nach. Meyer hingegen kritisierte, dass er zwar um Entlastung gebeten hatte, aber nicht um eine völlige Entbindung von seinen Aufgaben. Monatelang war Meyer danach beschäftigungslos – bei vollen Bezügen.

Der Umschau gab Meyer 2008 im Beisein seines Anwaltes ein Interview in seinem Haus in Castrop-Rauxel, in dem er sagte, er fühle sich "kaltgestellt". Seine Urteile, insbesondere auch zu Ostrenten, seien offenbar dem Staat "zu teuer" geworden und hätten dazu geführt, dass sich sein Senat in "diesen Kreisen sicherlich keine Freunde gemacht habe." Ein bis dahin in Deutschland einmaliger Fall.

Später klagte Richter Meyer gegen seine Versetzung – die Klage blieb jedoch erfolglos. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2013 leitete Meyer dann den für Fragen der Unfallversicherung zuständigen 2. Senat – in Rentenfragen durfte er nicht mehr urteilen.

Neue Urteile

Beim BSG waren fortan zwei Senate für Rentensachen zuständig. Beide Senate urteilten später, dass die Kürzungspraxis der Rentenversicherungsträger rechtens ist: "Erwerbsminderungsrentner müssen eine Absenkung des Zugangsfaktors (Rentenabschlag) auch dann hinnehmen, wenn sie bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben." (4 Urteile: B 5 R 32/07 R, B 5 R 88/07 R, B 5 R 98/07 R und B 5 R 140/07 R)

2009 scheiterten Gesetzesinitiativen der FDP und der Grünen im Bundestag mit dem Ziel, die Lage der Erwerbsminderungsrentner zu verbessern. Oft lagen deren Renten nur wenig über den Renten, die als Grundsicherung (Sozialhilfe) gezahlt wurden. 2011 scheiterten Musterklagen der Sozialverbände VdK und vom Sozialverband Deutschland (SVD) beim Bundesverfassungsgericht, das die Rentenabschläge für verfassungsgemäß hielt. (BvR 3588/08, 1 BvR 555/09)

Verbesserungen nur für Neurentner

Erst in den Jahren 2014, 2017 und 2018 gab es für Erwerbsminderungsrentner Verbesserungen. In sogenannten Renten-Leistungsverbesserungsgesetzen wurden die Zugangszeiten und damit die Renten erhöht – allerdings nur für jene, die nach Inkrafttreten der neuen Gesetze eine Erwerbsminderungsrente bewilligt bekamen. Sogenannte Bestandsrentner gingen leer aus. Für sie blieb alles beim Alten.

Gegen diese Schlechterstellung der Bestandsrentner im Vergleich zu den Neurentnern ab 2014 läuft aktuell beim Bundessozialgericht ein Musterverfahren der Sozialverbände VdK und SoVD (B 13 R 24/20 R). Mit einem Urteil wird noch in diesem Jahr gerechnet. Das neue Rentenanpassungs- und Erwerbsminderungsrenten-Bestandsverbesserungsgesetz soll nun – unabhängig vom Ausgang des Verfahrens - die betroffenen Bestandsrentner besserstellen.

 

MDR-Wirtschaftsredaktion

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 03. Juni 2022 | 19:30 Uhr

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